Tod von Tyre Nichols: US-Justiz geht gegen Polizisten vor

«Das war kriminell»: Nach dem Tod des Afroamerikaners Tyre Nichols in den USA werden fünf Polizisten angeklagt

Tyre Nichols wurde Anfang Januar bei einer Verkehrskontrolle in Memphis von fünf Polizisten verprügelt. Drei Tage später erlag er seinen Verletzungen. Am Freitagabend hat die Staatsanwaltschaft ein Video des Vorfalls veröffentlicht.

Demonstrantinnen bei einer Mahnwache für Tyre Nichols.

Demonstrantinnen bei einer Mahnwache für Tyre Nichols.

Patrick Lantrip / AP

In den USA kommt es immer wieder zu Fällen von tödlicher Gewalt durch die Polizei. Die Opfer sind häufig dunkelhäutig. Auch der Fall von Tyre Nichols fällt in diese Kategorie: Der 29-jährige Afroamerikaner wurde am Abend des 7. Januars in Memphis im Gliedstaat Tennessee wegen «rücksichtslosen Fahrens» angehalten. Am Strassenrand sollen laut Staatsanwaltschaft fünf Polizisten Tyre Nichols auf brutale Weise zusammengeschlagen haben. Drei Tage später war Nichols tot.

Die ebenfalls schwarzen Polizisten, welche mutmasslich in die Tat verwickelt waren, wurden inzwischen entlassen. Alle fünf wurden wegen Mordes zweiten Grades (entspricht nach schweizerischem Recht Totschlag) und anderer Straftaten angeklagt. Dies teilte der zuständige Bezirksanwalt Steve Mulroy am Donnerstag bei einer Pressekonferenz mit.

Der Vorfall sorgt in den USA landesweit für Empörung. In verschiedenen Teilen des Landes kam es zu friedlichen Demonstrationen.

Über den Tathergang ist bisher wenig bekannt

Trotz der Anklage sind über die genauen Umstände der Begegnung zwischen den Beamten und Nichols bisher nur Einzelheiten bekannt. Laut dem Staatsanwalt Steve Mulroy kam es am Strassenrand zu einer Auseinandersetzung, bei der die Polizisten Nichols mit Pfefferspray besprühten. Dieser habe zunächst versucht, zu Fuss zu fliehen. Einige Meter weiter hätten die Polizisten ihn aber eingeholt und ihm schwere Verletzungen zugefügt, sagte Mulroy am Donnerstag vor den Medien.

Laut einem Schreiben der Polizei von Memphis soll Tyre Nichols danach über Kurzatmigkeit geklagt haben. Die Polizisten riefen einen Krankenwagen. Als Nichols im Spital ankam, war er in kritischem Zustand. Ein Autopsiebericht zeigt, dass die Schläge der Polizisten «umfangreiche Blutungen» verursacht hatten. Seine Familie veröffentlichte später ein Foto, das kurz vor Nichols’ Tod aufgenommen worden war. Das Bild zeigt ihn in einem Spitalbett, offenbar bewusstlos und mit heftigen Prellungen im Gesicht.

Videos von tödlichem Polizeieinsatz veröffentlicht

Am Freitag, 28. Januar, hat die Polizei von Memphis mehrere Videos von dem brutalen Polizeieinsatz veröffentlicht, die von den Körperkameras mehrerer beteiligter Polizisten sowie einer stationären Kamera aufgenommen wurden. Darauf ist zu sehen, wie Tyre Nichols von den Polizisten in seinem Fahrzeug angehalten wird. Daraufhin ziehen die Beamten ihn aus dem Auto und drücken ihn zu Boden. Es kommt zu einer ersten Auseinandersetzung, nach der Nichols flieht.

In weiteren Einstellungen ist zu sehen, wie mehrere Polizisten Nichols an einer anderen Strassenkreuzung festhalten und wiederholt brutal mit Fäusten und einem Schlagstock auf ihn einschlagen. Nichols ruft mehrere Male laut und klar vernehmlich nach seiner Mutter. Mindestens ein Polizist tritt ihm wiederholt gegen den Kopf, während Nichols von den anderen zu Boden gedrückt wird. Danach schleifen die Einsatzkräfte den schwer verletzten Nichols zu einem nahen Einsatzfahrzeug und lehnen seinen Oberkörper gegen die Seite des Wagens, wie auf den Videobildern zu sehen ist.

Video führt zu Demonstrationen und Festnahmen

Das Video hat vielerorts für Empörung gesorgt. Demonstranten blockierten am Abend friedlich eine wichtige Autobahn, die durch Memphis führt. Viele hielten Schilder hoch, auf denen «Gerechtigkeit für Tyre» geschrieben stand. Bei Protesten in New York wurden laut Medienberichten drei Menschen festgenommen. Präsident Joe Biden sagte am Abend, er habe das Video gesehen und sei schockiert. Er habe mit Nichols’ Familie telefoniert und ihnen sein Beileid ausgedrückt. Der Vorfall erinnere an die tiefe Angst, das Trauma, den Schmerz und die Erschöpfung, die viele schwarze Amerikaner und Amerikanerinnen jeden Tag verspürten, sagte Biden.

Demonstranten verlassen die Brücke der Interstate 55 nach einem langen Protest gegen den Tod von Tyre Nichols am Freitag, 27. Januar 2023, in Memphis, Tennessee.

Demonstranten verlassen die Brücke der Interstate 55 nach einem langen Protest gegen den Tod von Tyre Nichols am Freitag, 27. Januar 2023, in Memphis, Tennessee.

Patrick Lantrip / AP

«Das war kriminell»

Nichols’ Familie wünscht sich Gerechtigkeit. Wenige Tage nach seinem Tod beauftragte sie den Bürgerrechtsanwalt Ben Crump, den Fall zu untersuchen. Crump ist in den USA bekannt: Er hat bereits einige Familien schwarzer Opfer von Polizeigewalt vertreten, unter ihnen auch die Angehörigen von Michael Brown, Breonna Taylor und George Floyd.

Vergangene Woche forderte Ben Crump die Polizei von Memphis auf, die Aufnahmen der Körperkameras zu veröffentlichen, welche die Beamten beim Übergriff auf sich trugen. Laut dem Anwalt beweisen die Aufnahmen, dass der 29-Jährige mindestens drei Minuten lang Opfer brutalster Gewalt wurde. Auch der Direktor des Tennessee Bureau of Investigation, David Rausch, zeigte sich von den Aufnahmen entsetzt. Das Verhalten der fünf Männer könne keineswegs als angemessene Polizeiarbeit gesehen werden. «Das war falsch. Das war kriminell», sagte Rausch am Donnerstag.

Ben Crump verglich den Übergriff in Memphis mit dem Fall des Afroamerikaners Rodney King, der sich im Jahr 1991 in Los Angeles zugetragen hatte. King hatte sich damals eine Verfolgungsjagd mit der Polizei geliefert, nachdem er eine Geschwindigkeitsbegrenzung überschritten hatte. Als die Polizei King schliesslich einholte, verprügelten ihn die Beamten auf brutale Weise. Die in den Vorfall verwickelten Polizisten wurden später freigesprochen, was in Los Angeles zu tagelangen Unruhen führte.

Biden bittet um friedliche Proteste

Am Freitagabend (Ortszeit) wies die Staatsanwaltschaft in Memphis auf das erhebliche öffentliche Interesse an dem Video hin, schon vor seiner Veröffentlichung, und forderte die Bürger auf, «friedlich und gewaltfrei» zu reagieren. Tatsächlich hat der Fall die Debatte um rassistisch motivierte Polizeigewalt in den USA wieder befeuert. Auf Twitter waren am Freitag zahlreiche Einträge zu lesen, die den Tod von Tyre Nichols mit demjenigen von George Floyd im Mai 2020 in Verbindung brachten.

Auch der amerikanische Präsident Joe Biden äusserte sich zum Vorfall. Nichols’ Familie verdiene eine rasche, vollständige und transparente Untersuchung, sagte Biden. Gleichzeitig bat er die Demonstranten darum, sich friedlich zu verhalten. Es sei verständlich, dass der Übergriff die Menschen empöre. Doch Gewalt sei niemals akzeptabel.

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