Tod von Tyre Nichols: Die schwarzen Polizisten und der Rassismus ...

Die Veröffentlichung der Videos, die die Brutalität der Polizisten gegenüber Tyre Nichols in Memphis zeigen, haben zu Demonstrationen, aber keinen Ausschreitungen geführt. Die Debatte über die afroamerikanischen Gesetzeshüter zeigt die komplexen Verhältnisse zwischen Weissen und Schwarzen in den USA.

Eine Teilnehmerin der Demonstration vom 27. Januar in Washington gegen die Polizisten, die am 7. Januar in Memphis Tyre Nichols töteten.

Eine Teilnehmerin der Demonstration vom 27. Januar in Washington gegen die Polizisten, die am 7. Januar in Memphis Tyre Nichols töteten.

Tasos Katopodis / Getty

Am Freitagabend sind die Videos veröffentlicht worden, die zeigen, wie fünf Polizisten Anfang Januar in Memphis Tyre Nichols malträtierten. Drei Tage später erlag der 29-jährige Afroamerikaner seinen Verletzungen. Die – ebenfalls schwarzen – Polizisten wurden umgehend entlassen und wegen Totschlags angeklagt, ihre Elite-Einheit namens Scorpion wurde am Samstag aufgelöst, die Vorgesetzten verurteilten die Tat einhellig. Die Angehörigen des Opfers hatten die Publikation der Aufnahmen verlangt, zugleich jedoch die Demonstranten aufgefordert, friedlich zu bleiben.

Die Polizisten als Kriminelle

Trotzdem wurden angesichts der empörenden Videos Ausschreitungen befürchtet. Die langen Aufnahmen der Bodycams und einer Überwachungskamera zeigen, wie Nichols am 7. Januar ohne ersichtlichen Grund beschimpft, verprügelt, getreten sowie mit Pfefferspray, Knüppel und Taser gequält wurde. Als er schwer verletzt am Boden lag, dauert es mehr als zwanzig Minuten, bis eine Ambulanz eintraf.

Angeblich wurde Nichols wegen rücksichtslosen Fahrens angehalten; ausgerechnet diese Anfangssequenz fehlt allerdings auf den Aufnahmen. Auch behaupteten die Polizisten, Nichols habe versucht, ihnen die Waffe zu entwenden; dafür gibt es keinerlei Hinweis.

Schaut man sich das Videomaterial an, das mehr als eine Stunde umfasst, gewinnt man den Eindruck, die Rollen seien vertauscht: Der angebliche «Täter» ist unschuldig und wehrlos, während die Polizisten wie eine gewalttätige Gang wirken: Kriminelle, die nachts einen beliebigen Bürger überfallen und aus reinem Sadismus quälen bis zum Tod.

Die Aufnahme der polizeilichen Körperkamera zeigt Tyre Nichols, der schwer verletzt, an einen Streifenwagen gelehnt, am Boden liegt.

Die Aufnahme der polizeilichen Körperkamera zeigt Tyre Nichols, der schwer verletzt, an einen Streifenwagen gelehnt, am Boden liegt.

Memphis Police Department / Reuters

In mehreren amerikanischen Städten kam es in der Folge zu Kundgebungen, die allerdings alle friedlich blieben. Für die kommende Woche sind weitere Demonstrationen angekündigt. Der Fall entfacht in den USA erneut die Diskussion um Polizeigewalt insbesondere gegen Afroamerikaner. Im Mai 2020 hatten Polizisten in Minneapolis den Schwarzen George Floyd getötet; monatelange «Black Lives Matter»-Proteste in ganz Amerika folgten.

Die Rekrutierung von schwarzen Polizisten reicht nicht

Der Fall Nichols ist für viele Afroamerikaner ein Beleg dafür, dass sich trotz «Black Lives Matter» nichts verändert habe. Grundlegende nationale Polizeireformen blieben aus. Andere weisen hingegen darauf hin, dass die rasche Reaktion der zuständigen Stellen und die Offenlegung aller Fakten zeige, dass auch für Polizisten die Zeit der Straflosigkeit vorbei sei. Die jüngsten Vorkommnisse werden gelegentlich mit dem Fall Rodney King verglichen, der 1991 in Los Angeles nach einer Geschwindigkeitsüberschreitung von Polizisten verprügelt wurde. Der Unterschied ist allerdings, dass die Polizisten damals freigesprochen wurden, was zu tagelangen Ausschreitungen führte.

Auch die Tatsache, dass es sich dieses Mal bei den Polizisten um Schwarze handelte, wird unterschiedlich interpretiert. Seit Jahren wird gefordert, mehr Afroamerikaner bei der Polizei anzustellen, um dem Rassismus Einhalt zu gebieten.

Für einige ist der Fall Nichols nun ein Zeichen dafür, dass Diversität allein nicht reicht. Denn einerseits hat die verbreitete Brutalität unter den amerikanischen Uniformierten nicht nur mit Rassismus zu tun, sondern auch mit einer bestimmten Betriebskultur und Mentalität, die offensichtlich selbst schwarze Polizisten verinnerlichen und die auch Weisse zu spüren bekommen. Dazu gehört ein autoritäres, herrisches Auftreten, der rasche Griff zur Waffe, eine oberflächliche Ausbildung, die vor allem aus Waffenkunde besteht, die häufige Rekrutierung von ehemaligen Soldaten, ein militärisches Selbstverständnis sowie eine ungenügende Fähigkeit und Bereitschaft zur Deeskalation.

Eine Demonstration gegen Polizeigewalt am 28. Januar in Boston.

Eine Demonstration gegen Polizeigewalt am 28. Januar in Boston.

Cj Gunther / EPA

Andererseits wird oft darauf hingewiesen, dass die Polizeigewalt gegen Afroamerikaner Ausdruck eines systemischen, institutionalisierten Rassismus sei. So neigen vermutlich auch viele afroamerikanische Polizisten dazu, ihr Gegenüber je nach Hautfarbe unterschiedlich zu beurteilen und einen Schwarzen härter anzufassen, weil sie eher davon ausgehen, er sei kriminell. Zudem wird «schwarz» oft mit «arm» und «ungebildet» assoziiert, so dass der Polizist darauf spekulieren kann, dass er im Fall von Amtsmissbrauch kaum mit juristischen Konsequenzen rechnen muss.

Es wird ein Präzedenzfall geschaffen

Manche Aktivisten befürchten, dass der Nichols-Fall dazu führen könnte, dass die rassistisch motivierte Polizeigewalt relativiert wird, im Sinne von: Es hat sich ja nun gezeigt, dass die Hautfarbe gar keine Rolle spielt, die Schwarzen sind keinen Deut besser als die Weissen. Möglicherweise wären die Demonstrationen eher eskaliert, wenn es sich bei den Polizisten um Weisse gehandelt hätte.

Allerdings gibt es auch Afroamerikaner, die erst recht schockiert sind, dass schwarze Polizisten nicht mehr Empathie gegen einen Afroamerikaner zeigen als weisse. Schliesslich weisen einige Kommentatoren und Politiker darauf hin, dass es jenseits aller Diskussionen um Rassismus auch einfach um Individuen gehe: Es existieren nun einmal gute und schlechte Menschen, unabhängig von der Hautfarbe.

Auch die rasche Entlassung und Verurteilung der Polizisten wird gelegentlich unter dem Aspekt der Hautfarbe verhandelt. Zwar wird das konsequente Durchgreifen von der afroamerikanischen Gemeinschaft begrüsst, aber zugleich hört man öfters die Frage, ob man bei weissen Polizisten ebenso entschieden durchgegriffen hätte.

Man muss allerdings festhalten, dass die Polizeichefin von Memphis, Cerelyn Davis, eine Afroamerikanerin ist, und selbst wenn der Verdacht stimmen sollte, dass weisse Polizisten weniger hart angefasst worden wären, so wird nun doch ein Präzedenzfall geschaffen, an dem man in Zukunft fehlbare Polizisten, ob schwarz oder weiss, messen wird.

Die Kreuzung in Memphis, an der Tyre Nichols von den Polizisten malträtiert wurde.

Die Kreuzung in Memphis, an der Tyre Nichols von den Polizisten malträtiert wurde.

Leah Millis / Reuters

Mehr lesen
Ähnliche Nachrichten