Ein Akt des Trotzes: Das Ensemble des bombardierten Theaters von ...

Ukraine Vor zwei Jahren bombardierte Russland das Theater von Mariupol. Ein Teil des Ensembles versucht im Westen des Landes, die Donezker Theatertradition lebendig zu halten

Mariupol - Figure 1
Foto Freitag - Das Meinungsmedium

Ihor Kytrysh und Olena Bila (l.) entgingen dem Angriff auf das Theater Mariupol, Vira Lebedynska musste ihn erleben

Fotos: Kasja Strek/Guardian/Eyevine/Laif

Als die Bomben das Theater in Mariupol trafen, hörte Vira Lebedynska weder einen Knall noch eine Explosion. Vom Aufnahmestudio im Keller des Theaters aus, in dem sie zusammen mit einigen anderen Theaterangestellten Schutz suchte, fühlte es sich eher wie ein Vakuum an. „Es gab ein Rauschen und das Gefühl, dass die Luft aus dem Raum gesaugt wurde“, erinnert sie sich. Einige Sekunden zuvor hatte sich ihr Kater Gabriel plötzlich angespannt, vielleicht weil er das Geräusch eines Flugzeugs über ihm spürte. Dann brach das Chaos aus: Rufe, Schreie, Panik.

Die 65-jährige Schauspielerin und Gesangslehrerin war eine von etwa 20 Theatermitarbeitern unter den mehr als 1.000 Menschen, die im Theater Zuflucht suchten, als die russische Armee im März 2022 Mariupol belagerte. Der Angriff erfolgte, obwohl allgemein bekannt war, dass es sich um den größten zivilen Schutzort in der Stadt handelte. Die Schätzungen über die Zahl der Todesopfer reichen von „mindestens 15“ (Human Rights Watch) bis zu 600 (Associated Press).

Am 16. März trat Lebedynska jetzt in Kiew in Mariupol Drama auf, einem Stück, das auf den Erinnerungen von vier Schauspielern basiert, die im Theater Zuflucht gefunden haben und auf der Bühne über ihre Erfahrungen berichten. Die vier gehören zu einer kleinen Gruppe von Schauspielern und Mitarbeitern des Theaters, die die Truppe in Uzhhorod, im äußersten Westen der Ukraine, wiederbelebt haben. Die Aufführungen dort finden im großen, kastenförmigen Zuschauerraum des Haupttheaters der Stadt statt, das seine Bühne für die Truppe aus Mariupol zur Verfügung gestellt hat. Gelegentlich finden auch Tourneen statt, wie die Aufführung in Kiew

Ein starkes Gefühl des Verlusts

Die Requisiten sind einfach, die Kostüme selbst genäht oder in örtlichen Secondhand-Läden gekauft, aber die Motivation und das Pflichtgefühl sind groß. „Der Körper unseres Theaters wurde zerstört, aber das Herz schlägt auch hier in Uzhhorod noch“, sagt Hennadiy Dybovskiy, der 63-jährige Direktor des Theaters, der aus Donezk stammt.

In Mariupol Drama bringt jeder der Schauspieler einen Gegenstand mit auf die Bühne, der ihn an die Zeit im Theater erinnert. Für Lebedynska ist es das Garderobenschild mit der Nummer 392. Die Mitarbeiter des Theaters trugen diese Schilder um den Hals, um sich für andere zu erkennen zu geben, die vielleicht Hilfe bei der Orientierung benötigten. Für den 24-jährigen Dmytro Murantsev ist es der einteilige Spiderman-Schlafanzug, den er während der Belagerung trug, da er sein wärmstes Kleidungsstück war.

Ebenfalls auf der Bühne stehen Ihor Kytrysh, 43, und seine Frau Olena Bila, 42, beide seit mehr als zwei Jahrzehnten am Theater von Mariupol. Sie verließen das Theater am Tag vor der Explosion und riskierten eine Fahrt über die Frontlinie, um aus der Stadt zu gelangen. Wie die meisten Menschen aus Mariupol empfinden sie ein starkes Gefühl des Verlusts für alles, was sie zurücklassen mussten. Sie hatten zwei Jahrzehnte lang gespart, um sich eine Wohnung zu kaufen, und waren gerade mit den Renovierungsarbeiten fertig. Einziehen konnten sie dort nicht mehr.

Eltern ohrfeigten ihr Kind

Eine der beunruhigendsten Erinnerungen ist für sie der Eindruck der Erosion von gesellschaftlichen Normen zu Beginn der Belagerung. „Wir sahen diesen Moment, in dem die normalen menschlichen Beziehungen zusammenbrachen, diesen Punkt, an dem der Selbsterhaltungstrieb der Menschen einsetzte und ein Teil der Bevölkerung einfach anfing zu plündern und in Panik zu geraten. Wir haben schon Rollen in Theaterstücken über diese Art von sozialem Zerfall gespielt, aber nichts bereitet einen darauf vor, dies im wirklichen Leben zu erleben“, sagt Bila.

Lebedynska sagt, sie habe die Bitten ihres Sohnes, Mariupol im Vorfeld des Krieges zu verlassen, ignoriert, weil sie einen umfassenden Krieg nicht für möglich gehalten habe. Als die Feindseligkeiten begannen, nahm sie einen Rucksack mit wichtigen Habseligkeiten und Gabriel, der Katze, und machte sich auf den Weg zum Theater. Zusammen mit einigen anderen Theaterkollegen schlug sie ihr Lager im Aufnahmestudio im Keller auf. „Am Anfang waren nicht so viele Leute da, aber dann öffnete jemand die Türen des Theaters und die Leute strömten herein. Sie hatten gehört, dass es eine organisierte Evakuierung aus dem Theater geben würde, aber es gab keine Evakuierung, sodass am Ende alle dort blieben“, erinnert sie sich.

Lebedynska kann sich nicht mehr genau daran erinnern, was unmittelbar nach dem Luftangriff geschah, sie hat nur noch ein paar Momentaufnahmen im Kopf: Eltern, die einem jungen Mädchen eine Ohrfeige geben, um es wiederzubeleben; Menschen, die blutüberströmt auf die Straße stolpern. Gabriel, der Kater, war verschwunden. Sie hatte keine Zeit, nach ihm zu suchen. Zwei Stunden lang lief sie im Morgenmantel durch die zerstörte Stadt, bevor sie in einer Wohnung am Rande von Mariupol übernachtete, deren Fenster zerborsten waren. Ihre Weiterreise war eine Odyssee.

Nur 50 sind geflohen

Es kann sich seltsam anfühlen, mit einem stark reduzierten Ensemble vor einem größtenteils leeren Zuschauerraum zu spielen, in einem Theater, das über tausend Kilometer von Mariupol entfernt liegt. Aber Dybovskiy sagt, es sei ein wichtiger Akt des Trotzes, weiterzumachen. „Dies ist das einzige professionelle Kollektiv, das die Fahne der Region Donezk hochhält. Wir werden nicht zulassen, dass sich die russischen Orks unsere Donezker Theatertraditionen aneignen“, sagt er.

Hinter solchen Worten verbirgt sich jedoch eine schwierige Realität. Von den fast 200 Theatermitarbeitern vor dem Krieg haben nur etwa 50 Mariupol verlassen und sich verschiedenen ukrainischen Theatern angeschlossen oder sind ins Ausland gegangen. Die übrigen blieben zurück, und einige schlossen sich einem neuen Theater an, das von den russischen Besatzungsbehörden gegründet wurde.

Kytrysh und Bila sagten, sie seien schockiert, wie viele ihrer ehemaligen Kollegen diese Entscheidung getroffen hätten. „Der Krieg hat gezeigt, wer wer ist. Es gab Leute, die das Theater verließen, dann aber zurückkehrten; es gibt Leute, von denen wir dachten, dass sie es verlassen würden, und die schließlich für die Russen arbeiteten“, so Kytrysh. Der ehemalige Direktor des Theaters, Volodymyr Kozhevnikov, hat während der Belagerung mehrere nahe Verwandte verloren und erzählte Kollegen, er bliebe zurück, um sie zu beerdigen. Jetzt ist er Leiter der Musikabteilung des neuen Theaters, das in einem provisorischen Saal in Mariupol spielt. Die russifizierte Truppe hat bereits mehrere Tourneen in Russland unternommen, und Moskau hat Schauspieler und Regisseure zur Arbeit in die besetzten ukrainischen Gebiete geschickt. Das Theater nimmt häufig an „patriotischen“ Konzerten zu russischen Nationalfeiertagen teil, und sein Orchester wird aufgefordert, Militärmärsche zu spielen.

Alte Kollegen arrangieren sich

Die in Moskau ansässige Theaterregisseurin Nika Kosenkova inszenierte kürzlich Alexander Puschkins Das Gelage während der Pest, ein kurzes Stück über groteske Feiern in einer Zeit des Todes und der Krankheit – offenbar ausgewählt bar jeder Ironie. Im lokalen Fernsehen war zu sehen, wie sie den Schauspielern erklärte, dass „das Wichtigste ist, Puschkins Text und seine Intonation zu verstehen ... richtig zu sprechen und gebildete Menschen zu sein“, bevor sie den Klang eines ukrainischen Akzents im Russischen als Beispiel dafür parodierte, wie man nicht sprechen sollte.

Lebedynska hatte in den Monaten nach ihrer Flucht noch telefonischen Kontakt zu Schauspielerkollegen, die geblieben waren: „Ich glaube, viele von ihnen hatten einfach darauf gewartet, dass die ‚russische Welt‘ kommt. Die Leute erzählten mir, das Theater sei von innen gesprengt worden. Ich habe ihnen gesagt: Ich werde nicht mit euch streiten, aber denkt doch mal darüber nach, was ihr da sagt.“ Murantsev hält diese Ansichten eher für einen Bewältigungsmechanismus für Menschen, die es nicht ertragen könnten, ihre Heimatstadt zu verlassen. „Ich glaube nicht, dass es dort besonders viele pro-russische Menschen gibt. Ich glaube, sie fühlen sich einfach ‚außerhalb der Politik‘ und wollen ruhig bleiben.“

In Uzhhorod fragen sie sich derweil, ob sie jemals wieder nach Hause zurückkehren können, und es bleiben ihnen sowohl die schrecklichen Erinnerungen an die Belagerung als auch die Sehnsucht nach einem Ort, den es nicht mehr gibt. „Die Zeit hat mich nicht geheilt, auch wenn ich etwas Distanz dazu gewonnen habe. Aber ich wache nachts immer noch mit unerträglichen Panikattacken auf. Das alles bleibt mit dir, in dir“, sagt Lebedynska.

Shaun Walker ist Korrespondent für Zentral- und Osteuropa beim Guardian

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