Harvey Weinstein: Wie reagiert die MeToo-Bewegung?

Ein Rückschlag für die MeToo-Bewegung und für Opfer sexualisierter Gewalt – so kommentierten etliche Beobachter das Urteil des New Yorker Berufungsgerichts, das Harvey Weinstein in der vergangenen Woche recht gab. Der ehemalige Filmproduzent, der 2020 wegen Vergewaltigung zu 23 Jahren Haft verurteilt worden war, soll unfair behandelt worden sein. Der damalige Prozess sei fehlerhaft gewesen, so das Urteil. Richter James Burke habe seinerzeit zugelassen, dass Frauen gegen Weinstein aussagten, deren Fälle nicht Teil der Anklage waren. Damit hatten die Staatsanwälte ein Verhaltensmuster des mächtigen Produzenten belegen wollen. Der heute 72-Jährige war von fast hundert Frauen beschuldigt worden, sie belästigt, genötigt und in einigen Fällen vergewaltigt zu haben. Einige von ihnen sagten bei dem Prozess 2020 aus, ohne selbst Klägerinnen zu sein. Dadurch sei eine Voreingenommenheit entstanden und der Angeklagte „in einem sehr nachteiligen Licht“ dargestellt worden, so Jenny Rivera, eine der Berufungsrichterinnen.

Harvey Weinstein - Figure 1
Foto FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung
Nicht einstimmig

Weinsteins Haftstrafe in New York, die er zuletzt im Mohawk-Gefängnis etwa 160 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Albany absaß, ist damit nichtig. Er ist nun aber kein freier Mann. In Kalifornien war Weinstein im Februar vergangenen Jahres wegen der Vergewaltigung eines italienischen Models zu 16 Jahren Haft verurteilt worden. Die Strafe muss er demnächst antreten, doch auch in Kalifornien wollen seine Anwälte Rechtsmittel einlegen. Die Staatsanwaltschaft in Manhattan kündigte derweil an, alle Möglichkeiten für ein neues Verfahren auszuloten.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Die am Donnerstag bekannt gegebene Entscheidung war nicht einstimmig, sondern ging mit vier zu drei Richterstimmen aus. Richterin Madeline Singas schrieb in der „dissenting opinion“, dem Minderheitswiderspruch, dass die Mehrheit ihrer Kolleginnen und Kollegen die „Fakten weißwasche“, ein „he-said/she-said-Narrativ“ bediene und damit einem „verstörenden Trend“ folge, Schuldsprüche in Fällen sexueller Gewalt zurückzunehmen. Die Argumentation der Mehrheit enthalte „überholte Ansichten“, zeige einen „Mangel an Kenntnis über die Dynamiken sexueller Gewalt“ und trage dazu bei, dass „Verbrecher sich der Verantwortung entziehen können“, schrieb Singas. Das Urteil wurde von vielen Beobachtern als weiterer Rückschlag für die amerikanische MeToo-Bewegung interpretiert, nachdem der Oberste Gerichtshof vor zwei Jahren beschlossen hatte, den Fall des Schauspielers Bill Cosby nicht zu verhandeln. Dessen Verurteilung wegen Vergewaltigung war vom höchsten Gericht von Philadelphia revidiert worden.

Die 2006 von Tarana Burke begründete MeToo-Bewegung setzt sich unter anderem dafür ein, dass sexualisierte Gewalt weniger verharmlost und öfter geahndet wird. Ashley Judd, die Weinstein als erste Schauspielerin beschuldigt hatte, sagte nach Bekanntwerden des Urteils, dieses sei unfair gegenüber den Opfern, aber sie wisse, was wahr sei. Die Journalistin Moira Donegan kritisierte, die Richter sagten im Grunde, dass zu viele Frauen ihre Stimme gegen Weinstein erhoben hätten. Sara Ziff, eine New Yorker Aktivistin, die selbst eine Vergewaltigung überlebte, sagte, das Urteil sei ein „Schlag in die Magengrube“ für alle Opfer sexueller Gewalt.

Welche Signalwirkung?

Ziff hatte sich in den vergangenen Jahren erfolgreich dafür eingesetzt, dass mit dem „Adult Survivors Act“ die Verjährungsfrist für New Yorker Zivilklagen nach Sexualstraftaten für ein Jahr suspendiert worden war. Weinsteins Anwalt Arthur Aidala dagegen lobte die Richter: Sie hätten den grundlegenden Prinzipien des Rechtsstaats Geltung verschafft. Nach den in New York geltenden Regeln solle ein Beklagter nur aufgrund der Taten beurteilt werden, um die es im Verfahren gehe.

Viele Beobachter und Aktivisten hatten sich von Weinsteins Verurteilung eine Signalwirkung erhofft, die mehr Opfer ermutigen würde, Straftaten zu melden. Laut Polizeistatistiken, die die Organisation RAINN (Rape, Abuse and Incest National Network) auswertete, würden in den USA jährlich rund 464.000 Menschen im Alter von über zwölf Jahren vergewaltigt oder sexuell missbraucht – Experten schätzen die Dunkelziffer als hoch ein. Mindestens eine von sechs Frauen werde im Laufe ihres Lebens Opfer einer versuchten oder vollzogenen Vergewaltigung, so RAINN. Die Strafverfolgung müsse Fachleuten zufolge verbessert werden.

Teil des Problems ist der sogenannte „rape kit backlog“. Hunderttausende medizinische Proben aus Vergewaltigungsverfahren, genannt „rape kits“, werden nicht oder nicht rechtzeitig bearbeitet. Einem Bericht des Kongresses zufolge gab es allein 2022 einen Rückstau von landesweit mindestens 25.000 Proben, die von mutmaßlichen Opfern genommen, aber nicht weiter untersucht worden seien. Nach dem Weinstein-Urteil am Donnerstag sagte ­MeToo-Gründerin Burke, das Ziel, die Strafverfolgung bei Sexualdelikten zu verbessern, müsse „langfristig, strategisch und überlegt“ angegangen werden, ungeachtet aller Rückschläge.

Mehr lesen
Ähnliche Nachrichten
Die beliebtesten Nachrichten der Woche