Wenn Natur und Technologie ein matriarchales Utopia bauen

20 Sep 2023

Björk kombiniert bei ihrem ersten Österreich Gastspiel in 25 Jahren inhaltliche Schwere mit mikrobiologischer Fragilität. Naturgeräusche mit Flöten, Harfen und Industrial-Sounds.

Björk - Figure 1
Foto FM4

Von Natalie Brunner

Björk ist nach Wien zurückgekehrt und hat gestern mit ihrer „Cornucopia“-Tour in der Stadthalle gespielt. „Cornucopia“ ist Latein für „Füllhorn“, und es hat sich auch musikalisch und visuell überwältigendes über die Besucher:innen der Stadthalle ergossen.

Björk definiert sich als Musikerin, aber sie ist seit Beginn ihrer Solokarriere eine auf Zusammenarbeit und Teamwork setzende Multimedia-Künstlerin. Ihre Lieder bekommen oft erst durch die visuelle Begleitung, Umsetzung und Übersetzung eine neue Ebene. Neue Zusammenhänge und ein anderer Sinn erschließen sich.

„Cornucopia“ ist eine Zusammenarbeit mit der feministischen argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel und die Show existiert in Variationen schon seit 2019. Es geht um nicht viel Weniger als Natur, Wachsen und Heilung, das fetteste Stück des Mutterkuchens. Pulsierende Licht-Mikroben entführen uns in das ständig in Kommunikation miteinander stehende Reich der Pflanzen und Pilze.

Santiago Felipe

Musikalisch knüpft „Cornucopia“ an Björks letzte Alben: An das lieblich verspielte „Utopia“ aus dem Jahr 2017 (Querflöten, Flöten und Vogelgezwitscher, nennt Björk selbst als beschreibende Stichworte), aber auch das im letzten Jahr erschienene „Fossora“, in dem Björk den Tod ihrer Mutter behandelt, das Dasein von fungiziden Lebensformen mit dumpfen Blasinstrumenten abstrahiert, ist ein wichtiger Teil der „Cornucopia“-Produktion.

Björk - Figure 2
Foto FM4

Björk hat darauf hingewiesen, dass die beiden Alben zusammengehören. Beide Werke drehen sich um Heilung und Regeneration, Natur und den Kreislauf von Werden und Vergehen.

Cornucopia ist ein Spektakel zwischen Konzert, Theaterproduktion und Multimediashow. Einen matriarchalen Dom zu errichten, in dem die binären Systeme von Natur und Technologie verschmelzen und so Überleben möglich wird, das ist die ambitionierte Idee, die dem Stück zugrunde liegt und die Björk zur Halbzeit auch in schriftlicher Form auf die Bühne projizieren lässt.

Santiago Felipe

Wie von Björk per Social Media erbeten füllt sich die Stadthallt pünktlich um 19.30 Uhr. Schon das Entree versetzt mich in Verzücken, viele der Besucher:innen haben ihr exzentrisches Björk gemäßes Gewand angelegt. Es gibt viel japanische Knittergewänder, Frida-Kahlo-Blumenkränze, und - meine Favoriten - in Pilz-Print-Overalls gekleidete Fans. Einen Exekutivbeamten mit gleichem Haarschnitt wie meinem zu sehen erfreute mich dann ebenso wie das mittelmäßige Merchandise, für das ich wegen Entbehrlichkeit also nicht meine Talerchen ausgeben musste.

Die Stadthalle war bestuhlt, die Bühne mit einem Fransenvorhang bedeckt, auf dem Dinge - irgendwo zwischen Organen, Vulvas, Blumen und verrottenden Obst - zu sehen waren, wie auf dem „Fossora“-Albumcover. Ein zeitgemäßes Renaissance-Gemälde nach Giuseppe Arcimboldo.

Björk - Figure 3
Foto FM4

Es geht um Körper, Natur und Technologie. Das ist aufgrund der eingespielten Dschungelgeräusche und minimalen Bleeps klar, noch bevor die Aufführung beginnt. Ein dystopischer Moment, der Menschen daran erinnert, wie Natur einmal geklungen hat. Das Publikum klatscht zu der sinnvollen Aufforderung, nicht mit Handys zu hantieren und zu fotografieren, sondern sich auf die Show einzulassen.

Das Stück „The Gate“ eröffnet die Performance, es flötet und zirpt, Björk steht mit Maske und einem Kostüm, das auch ein Lebewesen sein könnte, auf der Bühne, und Projektionen von sich entfaltenden Pflanzenteilen und ein psychedelisches Blumenvulva-Kaleidoskop betören und bestäuben die Sinne.

Björk spielt zwar in ihrem Set einige ihrer alten Nummern, Hits wie „Venus as a Boy“ oder „Isobel“, aber auch die sind im aktuellen Klangkleid zu hören. „Venus as a Boy“ ist auch in der Flötenversion reizend.

Santiago Felipe

Das Aufmerksamkeit-Level des sitzenden Publikums für die esoterisch-sakralen Naturabstraktionen von Björk ist bemerkenswert. Man könnte in der mit 9000 Menschen besetzten Halle eine Stecknadel fallen hören, während Björk a cappella singt. Kein einziges Handy ist in der Höhe und ich kriege Schimpfer, obwohl ich schon unter der Sitzreihe kriechend meine Notizen ins Phone spreche. Das ist wahre Fanhingabe mal 9000.

Björk - Figure 4
Foto FM4

Die semitransparenten Fransenvorhänge, auf welche all die Pflanzliche Unzucht und Reproduktionstätigkeiten projiziert werden, haben etwas von Kiemen oder Flossen, die sich rhythmisch bewegen.

Wichtig für „Cornucopia“ ist das isländische Flötenseptett Viibra, das Björk wie eine Crew futuristischer Faune umtanzt und umspielt während der von Björk mit den Worten „all the way from austria“ vorgestellte Manu Delago die Percussion-Instrumente spielt und an einem Punkt der Show in einem Becken geschöpftes Wasser als Instrument verwendet.

Santiago Felipe

Auf der rechten Seite der Bühne hat Björk wie ein kleines Raumschiff eine Echokammer aufgebaut, in der sie „Show Me Forgiveness“, ein Stück vom stimmfokussierten Album „Medulla“ gesungen hat und sich möglicherweise auch in outta space channelt.

Für das letzjährige Album „Fossora´“ hat Björk mit den indonesischen Gabber Modus Operandi zusammengearbeitet. Deren brachiale Beats retten als erdende Mini-Rave-Geschwüre „Cornucopia“ dann auch vor allzu großer Entrücktheit.

Ich habe mich sehr über die Nummer „Sue me“ gefreut, weil sie vor menschlichen negativen Emotionen trieft. Ein gutes Gegengewicht. Einerseits ist „Sue me“ eine Verarbeitung der Trennung von ihrem Partner dem Multi-Media-Artist Matthew Barney und des Sorgerechtsstreits um die gemeinsame Tochter. Das Stück geht aber weiter und ist auch eine Aufforderung, Kinder nicht am Trauma der Eltern leiden zu lassen und die Sünden der Väter nicht weiter zu tragen. Mit diesem Stück war nach ein bisschen mehr als einer Stunde Spielzeit die Bühne dann auch bereit für die eindringliche Videobotschaft der damals 16-jährigen Klimaaktivistin Greta Thunberg, das System zu ändern bevor es die Welt für nachkommende zerstört hat.

Björk - Figure 5
Foto FM4

Santiago Felipe

Um uns nicht weinend in die Nacht hinauszusenden, kam Björk im weißen Federkleid zu einer drei Stücke umfassenden Zugabe und Band-Vorstellung zurück. In „Cornucopia“ hat Björk inhaltliche Schwere mit Fragilität und Zärtlich und Zierlichkeit verschmolzen. Eine ätherische, sakrale Messe vor allem was unter der Sonne und dem Mikroskop kreucht, fleucht und gedeiht.

Publiziert am 20.09.2023

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