Trump und der Wahlkampf der Verschwörungstheorien

Republic of Crazy: Lügen und Verschwörungstheorien sind der «grosse unsichtbare Motor» der USA – und das nicht erst seit Donald Trump

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Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

So schlimm war es noch nie, sagen wir in Europa seufzend, wenn wir auf die Politik in den USA blicken. Dabei gehört Paranoia fest zur amerikanischen Demokratie. Wie lange geht das noch gut?

Sie bewegen sich in einer Parallelwelt – und stehen damit in einer amerikanischen Tradition: Anhänger der Verschwörungssekte QAnon an einer Wahlkampfveranstaltung von Donald Trump.

Matt Rourke / AP

Warum nur ist Donald Trump immer noch so beliebt? Nach allem, was passiert ist, angesichts all dessen, was noch kommen könnte?

Man kann sich dieser Frage mit herkömmlichen Mitteln nähern, mit den Werkzeugen der Politologinnen und Ökonomen. Dann landet man bei den üblichen Verweisen auf die Polarisierung und den Rückzug der Amerikaner in ihre Milieus, auf die Probleme mit der Migration, auf die Entfremdung von den kulturellen Eliten. Bei den Analysen über Inflation, Abstiegsängste, Kriege und die Unzufriedenheit über Präsident Joe Biden.

Stimmt alles – und ist doch nur die halbe Wahrheit. Weil es nicht wirklich erklärt, warum so viele Menschen nach wie vor zu einem Mann halten, der seine politische Karriere mit einer Verschwörungstheorie begonnen hat – und sich seither weiter radikalisiert hat.

Trump betrat die politische Bühne, indem er behauptete, Barack Obama sei kein gebürtiger Amerikaner und somit kein rechtmässiger Präsident. Heute lügt er seinen Anhängern vor, dass er selbst gar nie abgewählt worden sei. Er raunt vom Deep State, der es angeblich auf ihn abgesehen habe. Er deutet den Sturm auf das Capitol zu einer geheimen FBI-Operation um. Er macht immer offenere Avancen an die Anhänger der Verschwörungssekte QAnon, die glaubt, dass Amerika von einem satanischen Ring von Kinderschändern kontrolliert werde.

Und es ist ja nicht nur Trump. Auch Robert F. Kennedy bewirbt sich für die Präsidentschaft. Er glaubt, dass WLAN Krebs verursache und Chemikalien im Trinkwasser zu Transgender-Kindern führten. Er hält das Coronavirus für eine im Labor entwickelte Biowaffe, die Juden und Chinesen gezielt verschone. Zumindest früher sagte er, dass Impfungen zu Autismus führten. Bis zu einem Sechstel der Amerikanerinnen und Amerikaner geben in Umfragen an, dass sie Kennedy wählen würden.

Man kann also sagen: Der Verschwörungsglaube ist nicht eine Nebenerscheinung, sondern eines der Hauptmerkmale amerikanischer Politik im Jahr 2024. Trumps anhaltende Popularität: Sie lässt sich ohne diesen Glauben nicht erklären. So schlimm sei es noch nie gewesen, sagen wir deshalb in Europa seufzend, wenn wir auf die USA blicken. Aber stimmt das auch?

Ohne Verschwörungsverdacht keine USA

Die Gründerväter Amerikas waren Visionäre, Philosophen, politische Genies. Die Republik, der sie Ende des 18. Jahrhunderts die freiheitlichste Verfassung der Welt gaben, war ihrer Zeit voraus, und entsprechend gross ist der Ruhm der «Founding Fathers» noch heute. Aber was bei aller Heldenverehrung oft vergessengeht: Auch diese Männer waren anfällig für dunkle Phantasien – und erkannten überall Komplotte.

Geniale Gründerväter mit Hang zu Komplottphantasien: Die Unterzeichnung der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 im Historiengemälde von Howard Chandler. Im Bild rechts stehend: George Washington.

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Man sieht das bei George Washington, der 1789 zum ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Er war in seiner Wut auf die Kolonialherren in London zunehmend überzeugt davon, dass England gar nicht von König George III. regiert werde, sondern von einer Kabale von Ministern, die Unruhen in den eigenen Kolonien schüren wollten. Thomas Jefferson, ein anderer Gründervater, sah in den Steuern, die das englische Parlament in Übersee erheben wollte, «einen vorsätzlichen, systematischen Plan, uns in die Sklaverei zu führen».

Wenn die führenden Köpfe der Aufklärung irgendwo eine Verschwörung vermuteten, waren sie nicht etwa paranoid, sondern bewiesen im Gegenteil modernes Denken.

Nun könnte man solche Ansichten aus dem Mund von überzeugten Vertretern der Aufklärung für einen Widerspruch halten. Sie wirken nicht sehr aufgeklärt, nicht sehr vernünftig. Und doch sind sie die logische Folge eines neuen Denkens, das die Welt nicht mehr nur als das Werk Gottes begriff. Stattdessen waren Washington und seine Mitstreiter überzeugt davon, dass menschliches Handeln hinter allen Ereignissen stand.

Zufälle hatten in dieser Weltsicht keinen Platz. Alles, was geschah, egal wie chaotisch oder bizarr, konnte auf das Wirken eines Menschen zurückgeführt werden. Wenn also jemand irgendwo eine Verschwörung vermutete, war er nicht etwa paranoid, sondern bewies im Gegenteil modernes, aufgeklärtes Denken.

Für Michael Butter, Professor für amerikanische Kultur- und Literaturgeschichte an der Universität Tübingen, ist der Glaube der Kolonialisten und Gründerväter an Verschwörungen deshalb sogar «ein entscheidender Faktor auf dem Weg zur Amerikanischen Revolution». Konspiration als politische Triebfeder.

In der Praxis der neuen Republik war das Resultat allerdings hässlich. Zur dritten Präsidentschaftswahl im Jahr 1800 trat Thomas Jefferson gegen den Amtsinhaber John Adams an. Dessen Anhänger beschuldigten Jefferson, mit dem Geheimbund der Illuminaten unter einer Decke zu stecken. Den Illuminaten warfen sie vor, den Sturz der US-Regierung herbeiführen zu wollen – mit dem Ziel, eine Terrorherrschaft zu errichten, wie sie Frankreich in den Wirren der Revolution erlebt hatte. Jefferson, so der Vorwurf, wolle sich zum Napoleon Amerikas ausrufen.

Nichts davon stimmte – aber die Saat war gesetzt. «Die Vereinigten Staaten wurden aus Paranoia geboren», sagt der amerikanische Kulturhistoriker Colin Dickey. Er bezeichnet Verschwörungen und die wiederkehrenden Episoden moralischer Panik als den «grossen unsichtbaren Motor des Landes»: «An fast jedem entscheidenden Punkt der amerikanischen Geschichte – von der Gründung der Demokratie über die Frage der Sklaverei bis hin zum Aufstieg des Landes zur Weltmacht – wurden aus Angst vor diesen Veränderungen Verschwörungstheorien entwickelt.»

Amerika den Amerikanern

Eine dieser Veränderungen ist die Migration. Heute ist es vor allem die Idee des «Great Replacement», die in rechtsextremen Kreisen (und in Trumps Stammwählerschaft) herumgeistert: die Überzeugung, dass weisse Amerikaner durch nichtweisse Einwanderer ersetzt werden sollen. Früher war es die Angst vor katholischen Migranten, die das Land umtrieb und seine Politik über Jahrzehnte prägte.

Schon bei der Gründung der USA war die Abneigung gegen den Katholizismus ausgeprägt. Die protestantischen Eliten hielten die Katholiken für nicht willens und unfähig, sich als Bürger einer Demokratie zurechtzufinden, weil sie in ihren Augen nur nach den Wünschen des Papstes handelten (eine Vorstellung, die auch in der Schweiz lange verbreitet war). Als die Einwanderung von irischen und deutschen Katholiken ab den 1830er Jahren sprunghaft anstieg, rückten diese ins Ziel von Verschwörungstheorien und gewaltsamen Übergriffen.

Antikatholische Gewalt und QAnon-Anhänger: «Es ist im Prinzip die gleiche Verschwörung, einfach mit anderen Darstellern»

In der «Know-Nothing Party» fanden rabiate Antikatholiken und Einwanderungsgegner eine Heimat. Die Organisation nannte sich so, weil sie zu Beginn ein Geheimbund war. Wenn ihre Mitglieder darauf angesprochen wurden, sagten sie, sie wüssten von nichts. Bald traten die «Know-Nothings» aber sichtbar auf, und in den 1850er Jahren gelangten sie zu grossem Einfluss. Ihr Slogan lautete: «Americans Must Rule America» (Die Amerikaner müssen Amerika regieren). Zeitweise bekannten sich bis zu hundert Kongressabgeordnete zu ihren Positionen.

Der Hass auf Katholiken beschränkte sich nicht auf die Politik. In Boston brannte eine wütende Menge 1834 ein Kloster nieder, weil sie überzeugt war, dass die Priester und Nonnen im Untergrund Kinder als sexuelle Sklaven hielten. Colin Dickey sieht darin einen Vorläufer zu der QAnon-Wahnidee von der Pizzeria in Washington, in der sich angeblich ein Pädophilenring befand. «Es ist im Prinzip die gleiche Verschwörung, einfach mit anderen Darstellern», sagt er.

Sah überall Kommunisten am Werk: Senator Joseph McCarthy bei einer Anhörung im Kongress 1954.

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Und doch haben Verschwörungstheorien heute eine andere Qualität als damals. Lange Zeit drehten sie sich um angebliche Komplotte, die eine Gruppe von aussen gegen den amerikanischen Staat plante. Auch der Antikommunismus des 20. Jahrhunderts gehört noch in diese Kategorie. Als Senator Joseph McCarthy seine Hetzjagd gegen vermutete Kommunisten inszenierte, glaubte er immerhin noch nicht, dass schon die ganze amerikanische Regierung unter kommunistischer Kontrolle stand.

Das war bei einer anderen Gruppe von Verschwörungstheoretikern schon nicht mehr so klar. 1958 gründete der Geschäftsmann Robert Welch die rechtsextreme John Birch Society. Welch war überzeugt davon, dass die US-Regierung bis in die höchsten Kreise von Kommunisten unterwandert sei. Er hielt selbst den republikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower für einen Agenten Moskaus. Die Birch Society erlangte in konservativen Kreisen zunächst einigen Einfluss, verschwand dann aber auch bald wieder an den Rand der Gesellschaft.

Der Staat wird vom Ziel zur Quelle der Bedrohung

Spätestens ab den 1960er Jahren hätten Komplottphantasien einen neuen Charakter erhalten, sagt der Amerikanist Michael Butter: «Verschwörungstheoretiker glaubten nun, dass der Staat bereits vollständig von den Verschwörern übernommen worden sei und sie seine Organe nutzten, um gegen die Bürger vorzugehen.» Mit anderen Worten: Der Staat ist nicht mehr das Ziel der Bedrohung – er ist selbst die Bedrohung. Wenn Trump heute seine Anhänger vor dem Deep State warnt («sie sind hinter euch her»), klingt er nicht viel anders.

Wie kommen die USA da wieder heraus? Wie haben sie frühere Phasen von kollektiven Wahnideen überwunden?

Verschwörungsglaube als Merkmal gegenwärtiger amerikanischer Politik: Untersuchung im US-Kongress zum Sturm auf das Capitol.

Tom Williams / AP

Verschwörungstheorien funktionieren bis heute, weil sie ihren Anhängern die Angst vor einer komplexen, unübersichtlichen Welt nehmen, sagt der Kulturhistoriker Colin Dickey: «Selbst die Vorstellung von bösartigen Akteuren, die im Geheimen einen sinistren Plan verfolgen, ist für manche Leute beruhigender als eine Welt des reinen Chaos und der Unordnung.»

Die Geschichte Amerikas stimmt Dickey aber hoffnungsvoll. Sie zeige, dass Verschwörungspaniken immer wieder auftauchen und dann auch wieder verschwinden würden. «Um die derzeitige Flut von Verschwörungstheorien zu stoppen, müssen wir uns aber eingestehen, dass sie nicht aus dem Nichts aufgetaucht sind – und dass sie viel mehr Teil des Mainstreams sind, als wir zugeben.»

Michael Butter, der auch international zum Thema forscht, ist pessimistischer. «Verschwörungstheorien sind in den USA nicht generell verbreiteter als anderswo», sagt er. «Zumindest für einige Jahrzehnte wurden sie auch dort an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Aber die zunehmende Akzeptanz der jüngsten Zeit ist beunruhigend. In Europa sollten wir uns vermehrt fragen, wie wir im Fall einer Wiederwahl Trumps damit umgehen, dass Verschwörungsdenken Regierungsmeinung ist.»

Weil Verschwörungstheorien eben nicht nur einen Platz in der Geschichte Amerikas haben – sondern auch in seiner Gegenwart, vielleicht sogar schon bald wieder im Weissen Haus.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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