Sport bei Long Covid: wie Betroffene das richtige Mass finden

Sport bei Long Covid: weshalb sich Betroffene nicht überfordern dürfen und wie sie das richtige Mass finden

Unser Leser hat Long Covid und will wissen, wie stark er sich belasten darf. Ein Sportmediziner klärt auf.

Illustration Simon Tanner / NZZ

Frage: Ich habe Long Covid und versuche jeden Tag einen Spaziergang zu machen und auf dem Ergometer Rad zu fahren. Gibt es eine goldene Regel, wie stark man sich fordern und Sport treiben darf?

Es sind zwei goldene Regeln, die zu empfehlen sind: Erstens ist alles eine Frage des Masses. Um das richtige Mass für sich zu finden, gilt es zweitens, sehr gut auf den eigenen Körper zu hören.

Klar ist: «In der akuten Phase einer Covid-19-Infektion gilt ein Sportverbot», sagt Johannes Scherr, der Leiter des Universitären Zentrums für Prävention und Sportmedizin an der Universitätsklinik Balgrist. Am Zentrum werden auch Patientinnen und Patienten mit Long Covid betreut.

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Scherr ist zwar Sportmediziner, spricht aber im Zusammenhang mit Covid-19 und Long Covid lieber von «körperlicher Aktivität» als von Sport. Denn je nach Verlauf der Krankheit kann schon das Aufstehen oder der Gang zum Briefkasten eine enorme Anstrengung sein.

Bewegung kann helfen

Wenn immer möglich, sollte man trotzdem versuchen, den Tag nicht nur liegend zu verbringen. «Wer sich gar nicht bewegt, wird noch schwächer, der Körper baut Muskulatur ab», so Scherr. Zudem stärke massvolle Bewegung das Immunsystem, was wiederum die Genesung auch bei Long Covid unterstützen könne. Auch eine kürzlich veröffentlichte Metaanalyse von Studien zeige, dass körperliche Aktivität als therapeutische Strategie bei Long Covid geeignet sei.

Wichtig ist, dieses Vorhaben im wahrsten Sinne des Wortes Schritt für Schritt anzugehen. Das Long-Covid-Netzwerk Altea hat dazu den Ratgeber «Schwäche – zurück zum Sport» veröffentlicht – auch als Video.

Ratgebervideo von Altea.

Altea/Youtube

Fünf Phasen sind dabei vorgesehen – von der Symptomkontrolle bis zur Rückkehr zu sportlicher Betätigung.

Die Phase 1 ist besonders delikat: Hier erkunden die Betroffenen die eigene Belastungstoleranz. Bei diesem «Pacing» gilt es, mit den eigenen Energiereserven gut zu haushalten und den Alltag über mindestens sieben Tage ohne Rückschläge zu bewältigen. Das Ziel: mehr Lebensqualität.

«Wichtig ist, nicht über die eigenen Grenzen hinauszugehen. Denn dies kann zu Rückschlägen führen, was als ‹Crash› bezeichnet wird», sagt Scherr. Das hänge mit der Belastungsintoleranz bei einem Teil der Patienten zusammen. Bei diesen Betroffenen kann sich ein «post-exertional malaise» (PEM) zeigen, also eine Verschlechterung des Zustandes nach körperlicher oder geistiger Überbelastung.

Der Mensch neigt zur Überschätzung

Geduld und Rücksicht auf die eigene Tagesform sind also gefragt. «Der Mensch neigt eher dazu, sich zu überschätzen als zu unterschätzen», gibt Scherr zu bedenken. Gemäss dem Altea-Phasenmodell ist es wichtig, so lange in einer Phase zu verbleiben, bis man dabei keine Rückschläge und keine zusätzlichen Symptome mehr erlebt, sondern gewisse Verbesserungen, die im Ratgeber detailliert beschrieben werden.

Dabei hilft es, Tagebuch über die Aktivitäten und ihre Auswirkungen zu führen. Die Betroffenen benötigen Geduld und auch Verständnis seitens der Gesellschaft: Erfahrungsberichte zeigen, dass es schwer Erkrankte gibt, die seit Jahren in Phase 1 leben und bei geringsten Anstrengungen Rückschläge erleiden. Zum Pacing gibt es deshalb separate Ratgeber.

In den Phasen 2 bis 5 erfolgt wenn möglich eine schrittweise Rückkehr zu Aktivitäten wie vor der Erkrankung. Das führt von Arbeiten im Haushalt über moderates Ausdauer- und Krafttraining bis zu komplexeren Koordinations- und Gleichgewichtsübungen. Für den Sportmediziner Scherr ist der Ratgeber eine sinnvolle und hilfreiche Anleitung. Wer sich aber unsicher fühlt auf dem Weg durch die Phasen, sollte sich Unterstützung suchen. Dazu bieten sich etwa Long-Covid-Sprechstunden oder Fachpersonen aus Sportmedizin und Sportphysiotherapie mit Erfahrung mit Long Covid an.

Symptome lindern

«Wir verstehen die Ursachen und Mechanismen von Long Covid erst ansatzweise», sagt Scherr. Entsprechend setze auch die Behandlung bis jetzt nur bei den Symptomen an. Long-Covid-Sprechstunden und andere Anlaufstellen versuchten dabei unter Einbezug verschiedener medizinisch-psychologischer Fachrichtungen individuelle Lösungen zu finden.

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«Körperliche Aktivität in der richtigen Dosis kann dabei vielen Betroffenen helfen», so die Erfahrung von Sportmediziner Scherr und seinem Team an der Universitätsklinik Balgrist: «Vielen Long-Covid-Betroffenen geht es mit der Zeit besser, sie können schrittweise wieder aktiver sein.»

Die einzelne Person mit ihren individuellen Beschwerden und Ressourcen steht dabei im Zentrum. Ob man den Weg allein oder mit professioneller Unterstützung geht: Wichtig ist, Geduld mit sich selbst zu haben.

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