EM-Viertelfinal Spanien - Deutschland: Spanien ist viel mehr als Tiki ...

Spanien sieht sich vor dem Viertelfinal gegen Deutschland als Favorit – die Mannschaft zeigt viel mehr als Tiki-Taka

Deutschland Spanien - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Dank Flügelzange und dem überragenden Strategen Rodri geht Spanien mit immenser Zuversicht in den Viertelfinal gegen Deutschland. Dabei hat es noch nie einen Turniergastgeber besiegt.

Er erledigt im Zentrum allein, wofür andere Teams zwei Spieler benötigen: Spaniens Mittelfeldstratege Rodri.

Christopher Neundorf / EPA

Vor dem grossen Spiel wie dem EM-Viertelfinal gegen Deutschland am Freitag, ab 18 Uhr, werden in Spanien die ersten kleinen Punktsiege gefeiert. So informiert die Presse, dass die Spanier formell «Heimrecht» haben und daher jenes Stuttgarter Hotel reservieren durften, das der Gegner eigentlich selbst nutzen wollte. Auch bei den Leibchen haben die Spanier Erstzugriff, wodurch sie in Rot-Blau spielen dürfen und die Deutschen ganz in Weiss. So wie vor vier Jahren in Sevilla.

Damals fertigten die Spanier die Deutschen in der Nations League 6:0 ab – nur einmal, 110 Jahre zuvor, hatte der vierfache Weltmeister ein Länderspiel höher verloren. «Wir haben sie in allen Facetten des Spiels dominiert: taktisch, physisch, mental», sagte Spaniens Mittelfeldstratege Rodri, der damals eine Glanzleistung auf seiner Position vor der Abwehr gezeigt hatte. Heute wird er in der Schaltzentrale wie an jenem Novembertag auf Toni Kroos und Ilkay Gündogan treffen.

Zu sagen, von dem EM-Viertelfinal würde in Spanien eine ähnliche Dominanz erwartet wie einst in Sevilla, wäre übertrieben. Aber der «Deutschland-Komplex», den ein 73-Jähriger wie der frühere Nationaltrainer Vicente del Bosque noch aus seinen Spielerzeiten kennt, ist längst verdampft. Seit 1988 ist Spanien an Turnierendrunden gegen Deutschland ungeschlagen, und del Bosque wurde dieser Tage mit so siegesgewissen Aussagen zitiert, wie er sie zu seinen eigenen Zeiten auf der Bank stets tunlichst vermied.

Spaniens Darbietungen lassen Nebengeräusche verstummen

«Spanien spielt schneller – und mit höherem Rhythmus als Deutschland. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir weiterkommen», sagte Spaniens Weltmeistertrainer von 2010 gegenüber der deutschen «Sportbild». In der heimischen Cadena Ser fügte del Bosque hinzu: «Es fällt mir schwer, zwei ausländische Spieler zu nennen, die in der spanischen Mannschaft spielen könnten.» Das gelte nicht nur für den gegenwärtigen Gegner, sondern allgemein. «Der Deutsche Jamal Musiala, der Engländer Bukayo Saka . . . Viele gibt es nicht.»

Die kessen Töne haben durchaus offiziösen Charakter: Vicente del Bosque leitet derzeit eine von der spanischen Regierung eingesetzte Kommission, die den korruptionsgeplagten Verband und insbesondere den Präsidenten Pedro Rocha überwachen soll. Vor zwei Wochen beantragte Spaniens Sportgerichtshof TAD eine Ämtersperre von sechs Jahren für Rocha und gab ihm zu seiner Verteidigung eine Frist bis an diesem Freitag. Rocha erreichte jedoch einen Aufschub und wird daher auch in einem möglichen EM-Final neben König Felipe sitzen können wie bereits im Gruppenspiel gegen Italien. Unterstützt von Fifa und Uefa, klammert sich der 70-Jährige ans Amt.

Nicht, dass das in der Heimat derzeit gross interessieren würde. Wo vor dem Turnier noch Konfliktpotenzial ausgemacht wurde, haben die teilweise grandiosen EM-Darbietungen der Selección alle Nebengeräusche beseitigt. Und wo der Nationaltrainer Luis de la Fuente vor dem Turnier noch viel Skepsis erntete, als er behauptete, er sehe kein besseres Team als Spanien, schlagen die Medien mittlerweile begeistert in dieselbe Kerbe. «Deutschland erzittere», postulierten die beiden grossen Sportzeitungen «As» und «Marca» zu Wochenbeginn wortgleich, als das Viertelfinalduell feststand.

Erstmals seit 111 Länderspielen weniger Ballbesitz als der Gegner

Die Präpotenz hat Substanz, wer wollte es leugnen. Luis de la Fuente hat der Mannschaft einen offensiven Furor verpasst, wie man ihn letztmals beim EM-Titel 2008 unter Luis Aragonés erlebte. Das Spanien jener EM zeigte Tiki-Taka – das klassische Kurzpassspiel – in der forschesten Version; weniger sicherheitsorientiert als etwa unter del Bosque, der im Mittelfeld mit einer landesuntypischen Doppelsechs operierte und die Gegner über langen Ballbesitz hypnotisieren liess. 2024 gibt es dagegen sogar Spiele und Momente, da scheint Spanien das Tiki-Taka nachgerade abgeschafft zu haben.

Beim Auftakt gegen Kroatien reüssierten die Iberer über schnelle Konter, erstmals seit 111 Länderspielen hatte es weniger Ballbesitz als der Gegner – der damals, im November 2014, interessanterweise Deutschland hiess. Kroos markierte 2014 in Vigo das einzige Tor für den frischgebackenen Weltmeister, der seine erfolgreiche Adaption des bewunderten spanischen Spielstils an jenem Abend kulminierte. Heute ist, insbesondere zwischen Kroos und Rodri, wieder ein faszinierendes Duell um Ballbesitz und damit Spielkontrolle zu erwarten. Aber Spanien weiss anders als in der vergangenen Dekade der Misserfolge, dass es jetzt auch einen Plan B hat.

Ein solcher war schon unter de la Fuentes Vorgängern die grosse Sehnsucht der Selección. Ermöglicht haben den Plan B besonders zwei Faktoren: zum einen das Auftauchen diabolischer Flügelstürmer, wie sie Spanien vorher nie hatte. Nico Williams, 21, und Lamine Yamal, 16, bringen Tempo, Rasanz und Dribbelkünste ein; für die Gegner ist es unmöglich geworden, sich wie früher gegen Spanien nur auf die Mitte zu konzentrieren.

Spanien spielt in Stuttgart gegen die Geschichte

Ausserdem befindet sich Rodri in einer überragenden Verfassung. Er erledigt im Zentrum alleine, wofür andere Teams zwei Spieler benötigen. Mit seiner Passsicherheit und seiner Übersicht repräsentiert er das Beste des alten Spanien – und mit seiner Körperlichkeit und seiner Torgefährlichkeit das Beste des neuen.

Es ist im Nachhinein unverständlich, dass der 28-Jährige von Manchester City an der WM 2022 zugunsten des jahrelangen Strategen Sergio Busquets in die Innenverteidigung ausweichen musste. In Wirklichkeit ist Rodri das perfekte Upgrade des staksigen und abschlussscheuen Busquets.

In den üblichen Debattenbeiträgen ehemaliger Granden, die ein grosses Spiel nun einmal ausmachen, erklärte der frühere deutsche Nationalgoalie Jens Lehmann die Spanier trotzdem für «zu klein» und «sehr unerfahren, eigentlich eine Jugendmannschaft». Der mit 16 Jahren in der Tat sehr junge, aber im letzten Jahr um zehn Zentimeter gewachsene Lamine antwortete darauf: «Wir hören auf niemanden, weder von unserer noch von ihrer Seite. Wir werden auf dem Platz sehen, ob wir wirklich klein und unschuldig sind.» Nicht nur Deutschland, auch Spanien spielt in Stuttgart gegen die Geschichte: Bei neun Versuchen an internationalen Endrunden hat es noch nie einen Gastgeber geschlagen.

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