9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.04.2024 | Wie Antonio ...

5 Tage vor
Antonio Scurati
9punkt - Die Debattenrundschau Eine Unterlassung, eine Leerstelle Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

22.04.2024. In der Zeit entwirft Michael Walzer ein Szenario für einen Frieden zwischen Palästinensern und Israelis nach dem Sieg über die Hamas. Die arabischen Länder haben ein Drogenproblem, von dem vor allem das Assad-Regime in Syrien profitiert: Captagon - die taz geht ihm nach. Erleichtert nimmt die FAZ zur Kenntnis, dass die USA der Ukraine nun endlich wieder Waffen liefern. Die taz berichtet, wie dem Schriftsteller Antonio Scurati ein Auftritt im italienischen Staatsfernsehen verwehrt wurde - er wollte über Melonis Postfaschisten und ihr Verhältnis zur Geschichte sprechen.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.04.2024 finden Sie hier

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Politik

Höchst erleichtert nimmt Andreas Ross in der FAZ zur Kenntnis, dass die USA nach monatelanger Blockade durch die Republikaner nun endlich wieder Gelder für Waffenlieferungen in die Ukraine freigibt: "Wenn vermutlich am Dienstag auch der Senat dem Hilfspaket zugestimmt und Präsident Joe Biden das Gesetz unterschrieben hat, dürften die ersten Artilleriegranaten und Waffen binnen Tagen auf dem Schlachtfeld ankommen. Das ist der Unterschied zu vielen Zusagen aus Europa, die, weil die Rüstungsproduktion nicht resoluter hochgefahren wurde, meist nur Versprechen für eine gefährlich ferne Zukunft sind."

Im Zeit-Magazin-Interview mit Paul Middelhoff denkt der jüdisch-amerikanische Philosoph Michael Walzer über den Ausgang des derzeitigen Konflikts zwischen Israel und der Hamas nach. "Wenn es irgendwie gelingen sollte, die Hamas zu schlagen, und eine multinationale Mission daraufhin die Kontrolle über den Gazastreifen übernähme, könnte ich mir vorstellen, dass die Palästinenser diese Chance ergreifen und sich bemühen werden, eine wie auch immer geartete Form von Sicherheit und Selbstbestimmung zu erlangen. Wenn das nicht gelingt und die Hamas den Krieg übersteht, werden sich die Palästinenser radikalisieren und mit ihnen die Israelis. Diese Wirkung hat der Krieg auf Menschen, wenn er nicht eindeutig ausgeht. Auch hier ist Deutschland ein lehrreiches Beispiel: Die Bombardements von Hamburg, Köln und Dresden und der vollständige Sieg über Hitler haben keine neuen Nazis produziert." Klar sei allerdings: "Was Israel da macht, ist kein Genozid."

Die arabischen Länder haben ein Drogenproblem, sein Name ist Captagon. Viel spricht dafür, dass die Drogen von Syrien aus in andere arabische Länder exportiert werden, direkter Profiteur wäre dann das Assad-Regime, berichtet  Serena Bilanceri für die taz: "57 Milliarden US-Dollar soll der weltweite Handel laut der britischen Regierung wert sein. Andere Expert*innen sind zurückhaltender, schätzen ihn auf etwa zehn Milliarden. Die Pillen werden in Kellern und Lagern mit relativ günstigen Maschinen für etwa 50 US-Cent pro Stück produziert, für den Endkunden kosten sie zwischen 1 und 25 US-Dollar pro Pille, je nach Qualität und Herkunftsland. Und Syrien, nach mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg, Sanktionen und einer zerrütteten Infrastruktur, hat einen hohen Geldbedarf. Die Iran-nahe Hisbollah und weitere Milizen unterstützen laut Expert*innen ebenfalls den Handel als Einkommensquelle. Sowohl der Iran als auch die Hisbollah haben eine Verwicklung stets verneint."

Die Politologen Sarah Ben Néfissa und Pierre Vermeren legen in Frankreich ein Buch über die "Muslimbrüder an der Macht" vor. Sie werfen den Muslimbrüdern im Gespräch mit Christophe Ayad von Le Monde vor, die Proteste des "arabischen Frühlings" gekapert und dann in die bekannten Sackgassen geführt zu haben, so etwa die Ennahda-Partei in Tunesien. "Die tunesische Erfahrung ist signifikant. Nach einem Jahrzehnt Muslimbrüder-Herrschaft war nichts geschehen: Die Krise des Bildungssystems hatte sich verschärft, es wurden keine öffentlichen Krankenhäuser eingerichtet und so weiter. Die meisten Menschen in Tunesien hatten sich für die Demokratie entschieden. Eine Mehrheit ihrer Wähler hatte vielleicht verstanden, wie wichtig es ist, zwischen Politik und Religion zu unterscheiden. Ihre Stimmen zielten nicht darauf ab, die Umma zu vereinen, sondern darauf, religiöse Menschen an die Regierung zu wählen, von denen sie annahmen, dass sie ehrlich sind, ihr Wort halten und ihr Geld aus den Golfstaaten für wohltätige Zwecke verwenden würden."

Außerdem: In der taz kommt Claus Leggewie auf den Fall George Santos zurück, einen trumpistischen Politiker, der seine Biografie komplett gefälscht hatte.

Geschichte

Dem Schriftsteller Antonio Scurati ist ein Auftritt im italienischen Staatsfernsehen RAI verwehrt worden, wo er einen kurzen Monolog zum 25. April, dem "Tag der Befreiung" vom Faschismus sprechen wollte. Darin wirft er der postfaschistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ein heuchlerisches Verhältnis zur Geschichte vor, berichtet Michael Braun in der taz: "Scurati trifft da den Kern der Erinnerungs- oder besser gesagt der Amnesiepolitik Melonis und ihrer Partei Fratelli d'Italia. Schon in ihrer Antrittsrede als Ministerpräsidentin im Oktober 2022 - nur drei Tage vor dem hundertsten Jahrestag von Mussolinis Marsch auf Rom, den sie mit keinem Wort erwähnte - hatte sie zwar die Rassegesetze von 1938 gegeißelt; doch weder damals noch auch bei anderen Gelegenheiten gelang es ihr, den banalen Schluss zu ziehen, dass zu einem Verbrechen auch ein Verbrecher gehört: Über Mussolini ist Meloni nie ein böses Wort über die Lippen gekommen." Den Text Scuratis kann man hier nachlesen.

Fromm klingen die Gedanken des Historikers Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, zu den jüngsten scharfen erinnerungspolitischen Streitigkeiten in Bezug auf Holocaust und Kolonialismus auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ: Notwendig sei es, "den Modus des Kulturkampfes, der den Andersdenkenden mit binären Feindbildern und universalisierten Identitätskonstruktionen zum Schweigen zu bringen sucht, zu verlassen und stattdessen zu einer aufrichtig-reziproken Kommemoration der Opfer zu finden."

In der FAZ räumt der Historiker Jörg Bong, der im Oktober den zweiten Band seiner Trilogie über die Revolution von 1848 herausbringt (hier Band 1), mit einigen Klischees über die erste deutsche Demokratie von 1848 auf. Zum Beispiel, dass diese nur zu Chaos führte. "Es ist tatsächlich zu alldem gekommen: zu Unordnung, Chaos, Krieg, Terror, Barbarei. De facto führte der Weg, den Deutschland genommen hat - natürlich nicht 'teleologisch', aber eben faktisch -, nach der Niederschlagung des ersten demokratischen Versuchs innerhalb eines Menschenalters schon bald in mehrere Katastrophen, zwei davon global und unermesslich, zuletzt in den Faschismus und seine menschheitsgeschichtlich singuläre Barbarei. Schon insofern ist es absurd, die propagandistische Warnung von damals zu wiederholen. ... Es ist umgekehrt. Im Anschluss an die Ausradierung und Vertreibung vieler Zehntausender Demokraten - ein demokratischer Aderlass, wie es ihn in Deutschland nur Anfang der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts noch einmal gab - kommt es zur harschen Restauration und alter Despotie."

Medien

Das "World Press Photo" wird durch eine niederländische Stiftung ausgewählt. In diesem Jahr wird wie so oft bei prämierten Pressefotos eine trauernde Frau gezeigt, die ein totes Kind in einem Leichentuch im Arm hält - es handelt sich um eine Szene aus Gaza. Thomas Schmid wertet den Preis in der Welt (und in seinem Blog) als "die Indienstnahme eines Moments großer Trauer für eine im Grunde politische Aussage", also die Instrumentalisierung palästinensischen Leids, um Hass auf Israel zu schüren. "Zu einem Skandal wird die diesjährige World-Press-Photo-Award-Veranstaltung aber durch ein Fehlen, eine Unterlassung, eine Leerstelle. Es passierte im vergangenen Jahr viel Furchtbares, das durch Fotografien festgehalten werden sollte. Zu diesem Furchtbaren gehörte auch die Hamas-Mordaktion vom 7. Oktober 2023. ... Und anders als beim Holocaust waren die Täter keineswegs bemüht, ihr Morden vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Sie wollten die Welt teilhaben lassen an ihrem Wüten. Sie filmten, sie dokumentierten ihre Taten und stellten sie ins Netz. Noch Tage wie Wochen später waren die Spuren dieser Mordaktion zu sehen und zu besichtigen: Blut, Leichenteile, zerstörte Wohnungen, verwaiste Dreiräder. Viele Fotografen haben sie dokumentiert. Doch die Stiftung 'World Press Photo' hielt keine dieser Aufnahmen einer Anerkennung für würdig. Die Hamas-Morde kommen in dieser ästhetisierenden parteiischen Foto-Welt einfach nicht vor." (Anm. d.Red: Ein Foto vom 7. Obktober wurde doch in die Auswahl des Award aufgenommen, siehe Leserkommentar unten.)

Außerdem: In der taz berichtet Wilfried Urbe über sehr viel Ärger im Kölner Zeitungs- und Verlagshaus Dumont, gerade hat die Belegschaft ihren siebten Warnstreik in diesem Jahr beendet.

Europa

Wieder ein Fall von Rechtsextremismus an Behörden? Joachim Wagner recherchiert in der taz zum Verwaltungsgericht Gera, dessen Richter offenbar programmatisch Freiräume für rechtsextreme Parteien schaffen. So hat das Gericht "einer Neonazi-Gruppe und der NPD (heute 'Die Heimat') über Jahre erstaunlich viel Raum für Demonstrationen, Protestaktionen und rechte Rockkonzerte eröffnet. In Jena durfte die NPD Märsche im Gedenken an die Reichspogromnacht und an den Tod von Hitlerstellvertreter Rudolf Heß durchführen. Die Neonazi-Gruppe 'Thügida/Wir lieben Ostthüringen' durfte Hitlers Geburtstag am 20. April 2016 mit einem Fackelzug in Jena feiern. Das Gericht kassierte dabei immer wieder zuvor verhängte Versammlungsverbote des damaligen SPD-Oberbürgermeisters Albrecht Schröter."

Gesellschaft

Die New Yorker Polizei hat die Ausschreitungen auf dem Campus der Columbia University offenbar nicht in den Griff bekommen, ein Rabbiner der Universität hat jüdischen Studenten geraten, nicht mehr in die Uni zu kommen. Videos in den sozialen Medien zeigen zahlreiche Ausfälle von Pro-Hamas-Demonstranten, heißt es in einem dpa-Ticker, der etwa bei Spiegel online nachzulesen ist: "In einem ist zu hören, wie Teilnehmer rufen: 'We say justice, you say how? Burn Tel Aviv to the ground' (deutsch: 'Wir sagen Gerechtigkeit, ihr sagt wie? Brennt Tel Aviv bis auf den Grund nieder'). In einer anderen Aufnahme werden die jüdischen Studierenden aufgefordert, zurück nach Polen zu gehen. Aus Sicht des Rabbis haben die Ereignisse deutlich gemacht, dass weder die Universität noch die Polizei für die Sicherheit jüdischer Studierender garantieren könnten."

Religion

Auf ihren "Christ&Welt"-Seiten bringt die Zeit ein Interview mit dem katholischen Theologen Heiner Bielefeldt, der auf die Verfolgungen von Christen in der Welt hinweist (dabei geht es ihm ausgerechnet besonders um die Evangelikalen) und generell auf den Widerspruch von religiöser Zugehörigkeit und politischer Verfolgung zu sprechen kommt. "Wenn es sich nur um Konfessionskonflikte handelte, die sich politisch Ausdruck verschaffen, dann würden wir zuweilen die Frontverläufe gar nicht verstehen. Die ganzen Widersprüche: Die Hamas etwa ist eine sunnitische Organisation. Sie wird vom schiitischen Iran unterstützt, der im eigenen Land die Sunniten diskriminiert. Fest steht aber auch: Man kann Religion nicht als rein rhetorisches Mittel in der Politik nutzen, wenn das nicht auch in den Religionsgemeinschaften selbst auf Resonanz stößt."

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