Anthony Hopkins in „One Life“: Der Boulevard des Wiedersehens

One Life

Nicholas Winton sollte dringend einmal aufräumen. In seinem Arbeitszimmer haben sich im Lauf der Jahre Unmengen von Dingen angesammelt. Und jetzt schleppt er auch noch eine neue Schreibmaschine an. Dabei hat er doch schon eine. Mr. Winton ist wohl so etwas wie ein Horter. In Wahrheit dreht sich aber alles um einen einzigen Gegenstand in seinem Besitz: um eine alte Aktentasche, in der er etwas hütet, was in seinem Leben zentrale Bedeutung hat.

Rund um diese Aktentasche hat er zahlreiche Besitztümer ange­sam­melt, die aber im Vergleich belanglos sind. Der Film „One Life“ von John Hawes macht uns mit Nicholas Winton im Jahr 1987 bekannt. Er lebt in Maiden­head, einer Kleinstadt westlich von ­London. Mit seiner Frau Grete bewohnt er ein schönes Haus mit Pool. Es fehlt ihm offensichtlich an nichts, nur an innerer Ruhe.

Das Zeitfenster kann sich schließen

Einen ersten Eindruck dessen, worum es in „One Life“ wirklich geht, gibt der Regisseur mit einer relativ dramatischen Idee. Mit ein paar Schwimmzügen im Pool taucht Winton in seine Vergangenheit ein. Er ist nun wieder in Prag im Jahr 1938. Die Nazis haben gerade Österreich „angeschlossen“; jetzt droht der Einmarsch in Prag. Zwar hat die Kon­ferenz in München versucht, die territorialen Ambitionen von NS-Deutschland einzuhegen. Aber Hitler lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht unbedingt geneigt ist, nun innezuhalten. In Prag sind schon die Agenten, die in seinem Sinn arbeiten.

Nicholas Winton steht auf der Gegenseite. Ein britischer Jude, dessen Eltern noch Wertheim hießen. Ein erfolgreicher Angestellter in der Finanzbranche, der in London den besseren Kreisen angehört, der nun aber dringend etwas tun möchte. In Prag erlebt er die Not vieler Menschen, die genau wissen, dass sie mit Verfolgung zu rechnen haben, sollten die Nazis die Herrschaft übernehmen. Im März 1939 tritt dieser Fall dann ja ein. Winton operiert in einem Zeitfenster, das sich jeden Augenblick schließen kann.

Unbehaust in der Gegenwart

„One Life“ beruht auf tatsächlichen Begebenheiten aus jenen Wochen und Monaten. Nicholas „Nicky“ Winton war eine historische Figur: In Rückblenden wird er von Johnny Flynn gespielt, in der erzählten Gegenwart des Jahres 1987 von Anthony Hopkins. Diese zweite Ebene ist für John Hawes (auf Grundlage eines Drehbuchs von Lucinda Coxon und Nick Drake) die wichtigere. Es geht dabei vor allem darum, wie die Heldentat von einst in der Gegenwart von 1987 erinnert werden kann. De facto waren damals die Kindertransporte weitgehend vergessen: Nicht nur aus Prag, auch aus Österreich, Polen und Deutschland waren nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze jüdische Kinder in Sicherheit gebracht worden, getrennt von ihren Eltern. Noch heute sind einige von ihnen am Leben. 1987 waren sie es in großer Zahl.

Anthony Hopkins hatte zuletzt in dem Demenz-Drama „The Father“ noch einmal eine große Rolle. Er ist als Schauspieler eine Autorität, auch dann, wenn er wie in „One Life“ seine Figur vor allem als Zerrissenen charakterisiert. Oder als einen Menschen, der sich eben schwertut, in der Gegenwart zu leben, weil die Vergangenheit bei ihm so übermächtig ist. Winton trägt sich mit dem Gedanken, seine Materialien (ein „scrapbook“, in dem er Fotografien und andere Dokumente zusammengestellt hat) einer passenden Institution anzuvertrauen. Die Wiener Holocaust Library in London läge nahe, doch Winton zaudert. Es fällt ihm offensichtlich schwer, sich zu trennen von den Bildern all der Kinder, die ihm ihr Überleben verdanken.

Die Vergangenheit ist nicht vergangen

669 Kinder waren es insgesamt, die vor allem dank seiner Initiative 1938 aus Prag weggebracht wurden. Winton bemühte sich, wie wir in den Rückblenden sehen, bei einer schwerfälligen Bürokratie um die entsprechenden Genehmigungen, er wurde dabei von seiner Mutter Babette unterstützt (Helena Bonham-Carter spielt eine tatkräftige Society Lady). In großer Eile wurden Paare gefunden, die Kinder bei sich aufnehmen wollten – „vorübergehend“, wie man zu die­sem Zeitpunkt noch meinte. Zwei Kinder maximal, mehr ist nicht zumutbar – das schafft Härtefälle. Wo es drei Geschwister gibt, muss ein Kind bleiben. Gegen alle diese Widerstände aber gelingt die gute Tat – „Nicky’s children“, wie sie später genannt wurden, waren damit dem Vernichtungswillen der Nationalsozialisten entrissen.

In der Gegenwart von 1987 gerät Winton schließlich an Betty Maxwell (Marthe Keller), die Frau des mächtigen Verlegers Robert Maxwell, der selbst aus der Tschechoslowakei stammte und 1940 die Flucht nach England schaffte. Die Aktentasche fand damit einen anderen Kontext als den seriösen, wissenschaft­lichen, den die Wiener Library dargestellt hätte. Unversehens findet sich Winton in einer Fernsehshow wieder. „That’s Life“ ist Boulevard, und womit lassen sich besser Quoten machen als mit einem Wiedersehen zwischen Menschen, die jahrzehntelang nichts voneinander wussten?

2014 schrieb Barbara Winton eine Biographie über ihren Vater, der 2015 in hohem Alter starb. Zu diesem Zeitpunkt gab es auch schon einen Dokumentarfilm über ihn: „Nicholas Winton – The Power of Good“ von Matej Mináč, einem slowakischen Filmemacher. Im Vergleich dazu ist „One Life“ nun das offiziöse „period picture“, das in den Rückblenden auch farblich und mit der Ausstattung die inzwischen stark kodifizierten Konventionen von Filmen über diese Zeit erfüllt. Nicholas Winton war nicht Oskar Schindler, und Steven Spielberg hatte mit „Schindlers Liste“ eine deutlich größere Ambition, bei ihm ging es um das Ganze der Schoa.

In „One Life“ ist das auch der Fall, aber eben auf eine vermittelte Weise – Auschwitz oder davor Theresienstadt sind für das wissende Publikum von heute immer schon präsent, auch wenn Winton selbst vom Ausmaß der Gefahr noch keinen genauen Begriff haben konnte. Unter den Gerechten, die sich dem Verbrechen in den Weg zu stellen versuchten, hat er nun auch filmhistorisch seinen Platz.

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