Kluge-Köpfe-Kampagne: „Ihr habt es in der Hand, dass das nicht ...

Das hundertste Motiv der Kluge-Köpfe-Serie: Margot Friedländer vor dem Holocaustmahnmal in Berlin Bild: Matthias Spaetgens

Margot Friedländer überlebte den Holocaust und kehrte aus Amerika nach Deutschland zurück. Nicht als Anklägerin, doch als Mahnerin und Anwältin der Menschlichkeit. Sie sagt, Zeitzeugen von damals werde es bald nicht mehr geben. Nun hat sie sich von Wim Wenders für die F.A.Z. fotografieren lassen.

An diesem grauen Januarmorgen ist Margot Friedländer schon früh mit ihrem Rollator draußen in der Kälte unterwegs gewesen. Zurück in ihrer warmen Wohnung zeigt sie der Besucherin die Familienbilder auf dem Couchtisch neben ihrem Sessel. Als erstes das Bild eines jungen Mannes mit dicken schwarzen Haaren, der ernst und durchdringend durch eine dunkel gerandete Hornbrille schaut. Er sieht sehr klug aus, gar nicht kindlich. Es ist ihr Bruder Ralph, damals ist er 14 Jahre. „Er war brillant“, sagt Friedländer, „hat mehrere Klassen übersprungen und wusste schon die Antwort auf die Fragen der Lehrer, bevor sie gestellt wurden. Vor allem in Mathematik.“ Und er habe sehr gut Geige gespielt. Am 20. Januar 1943 wurde der Bruder von der Gestapo abgeholt. Es war der Tag, an dem die Mutter mit den beiden Kindern fliehen wollte. Wer sie verraten hat, ist bis heute unklar.

Heike Schmoll

Politische Korrespondentin in Berlin, zuständig für die „Bildungswelten“.

Von einer Nachbarin, bei der die verzweifelte Friedländer damals klingelte, erfuhr sie, dass die Mutter kurz nach der Festnahme des Bruders die versiegelte Wohnung vorfand und ihr ausrichten ließ: „Ich habe mich entschlossen, zur Polizei zu gehen. Ich gehe mit Ralph, wohin auch immer das sein mag. Versuche, dein Leben zu machen.“ Das seien „kalte Worte aus dem Mund fremder Leute“ gewesen, beschreibt Friedländer im Rückblick ihre Verlassenheit. „Versuche, dein Leben zu machen“, wiederholte die Nachbarin und überreichte ihr die Handtasche der Mutter mit deren Adressbuch und der Bernsteinkette. Beides hat sie noch heute. Damals wusste sie noch nicht, dass es das einzige war, was ihr von ihrer Mutter bleiben sollte. Denn die Mutter wurde sofort in Auschwitz vergast, der Bruder lebte noch etwa vier Wochen. Auch der Vater und viele andere Verwandte wurden in Auschwitz ermordet.

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