Syrien: Offensive überraschte Assad-Regime
Syrien
In Syrien haben dschihadistische Kämpfer binnen weniger Tage bedeutende Geländegewinne gegen die Truppen von Machthaber Baschar al-Assad erreicht. Die Offensive hat das Regime trotz Unterstützung der russischen Luftwaffe offenbar unvorbereitet getroffen. Der Vorstoß der Rebellengruppen dürfte Konsequenz sein aus den Entwicklungen der vergangenen Monate im Nahen Osten.
Online seit gestern, 20.02 Uhr (Update: gestern, 20.11 Uhr)
Nach Jahren der relativen Ruhe hat sich in den vergangenen Tagen die erste Großoffensive dschihadistischer Rebellen gegen das Assad-Regime entwickelt. Die Rebellen unter Führung der islamistischen Hajat Tahrir al-Scham (HTS) eroberten größere Gebiete im Nordwesten Syriens. Am Samstag drangen sie weit nach Aleppo vor, am Sonntag verlor die Armee laut Aktivisten mit Ausnahme von vier von kurdischen Milizen kontrollierten Stadtteilen vollends die Kontrolle über die Millionenstadt. Den dschihadistischen Gruppen gelang zudem eine Blockade der Schnellstraße M5, die Aleppo mit der Hauptstadt Damaskus verbindet.
Wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Sonntag mitteilte, wurden seit Beginn der Offensive mehr als 400 Menschen getötet. Die Beobachtungsstelle mit guten Kontakten zu Zivilpersonen und anderen Quellen in Syrien hat ihren Sitz in London. Ihre Angaben sind für Medien daher schwer überprüfbar, gelten aber als plausibel.
Schwächen ausgenutztFür Assad kam die Offensive offenbar überraschend. Beobachter gehen davon aus, dass die Rebellen eine aktuelle Schwäche der mit Assad verbündeten proiranischen Milizen und des Iran ausgenützt haben. Aaron Stein, Forscher des in den USA ansässigen Foreign Policy Research Institute, erklärte die Geschwindigkeit der Rückschläge mit der gleichzeitigen Schwächung der Hisbollah und einer „Ausdünnung“ der Präsenz der russischen Luftstreitkräfte in Syrien.
Rebellen nahe Aleppo: Sie sollen die Millionenstadt inzwischen großteils kontrollierenMit Blick auf Assad fügte er gegenüber der Nachrichtenagentur AFP an, das schnelle Vorrücken der Regierungsgegner sei eine „Erinnerung daran, wie schwach das Regime ist“.
Der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, bezeichnete es als „seltsam“, dass die Regierungskräfte trotz Unterstützung der russischen Luftstreitkräfte „derart massive Rückschläge“ erlitten hätten.
Lange VorbereitungenAuch Dareen Khalifa, Expertin des in Brüssel ansässigen Politikinstituts International Crisis Group, sagte, die Verteidigungslinien der Armee seien „mit unglaublicher Geschwindigkeit zusammengebrochen“. Die islamistischen Kämpfer hätten ihren Vorstoß seit Monaten vorbereitet. Aus der Perspektive der Kämpfer sei insbesondere die vom Iran finanzierte und bewaffnete Hisbollah-Miliz geschwächt.
Die HTS gilt als Nachfolger der Al-Nusra-Front, eines früheren Ablegers der Terrororganisation al-Kaida in Syrien, distanzierte sich aber 2016 von al-Kaida. Die Gruppierung wird unter anderem von den USA als Terrororganisation eingestuft und verfolgt Fachleuten zufolge eine salafistisch-dschihadistische Ideologie.
Die in Syrien an der Seite der Assad-Regierung kämpfende Hisbollah hat schwere Verluste durch Angriffe Israels auf ihre Stellungen im Libanon und in Syrien erlitten. Die Offensive der syrischen Dschihadisten begann am Mittwoch – dem Tag, an dem im Libanon die Feuerpause zwischen Israel und der Hisbollah in Kraft trat.
Auch Russland sehen die Kämpfer laut Khalifa mittlerweile in einer schwächeren Position gegenüber der Türkei – die wiederum die Dschihadisten unterstützt. Der NATO-Mitgliedsstaat Türkei hat sich als möglicher Vermittler im Ukraine-Krieg positioniert – und ist gleichzeitig ein wichtiger Handelspartner des von westlichen Sanktionen getroffenen Russland.
Externe Akteure entscheidenSowohl Russland als auch der Iran und die Türkei äußerten sich bisher zurückhaltend. Aus dem Kreml hieß es, man hoffe, dass Syrien wieder für „Ordnung“ in Aleppo sorgen werde. Kriegsbloggern zufolge entließ der Kreml am Sonntag zudem seinen für Syrien verantwortlichen General Sergej Kisel. Über die Absetzung des 53-Jährigen berichteten der dem russischen Verteidigungsministerium nahestehende Telegram-Kanal „Rybar“ und der Blog „Voenny Osvedomitel“ (Militärischer Informant). Unbestätigten Berichten zufolge soll Kisel durch Generaloberst Alexander Chaiko ersetzt werden. Eine offizielle Bestätigung dazu gab es aber nicht.
Der iranische Außenminister Abbas Araktschi sprach mehrfach von einem nicht näher benannten Komplott seiner Erzfeinde USA und Israel zur „Destabilisierung der Region“.
ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary analysiert, wer die dschihadistischen Gruppierungen sind, die in Syrien vorrücken und welche Rolle Russland und die Türkei in diesem Konflikt spielen.
Araktschi traf am Sonntag in Damaskus mit Assad zusammen. Assad hob nach Angaben des syrischen Präsidialamtes bei dem Treffen hervor, wie wichtig die „Unterstützung durch Verbündete“ bei der Abwehr von „Terrorangriffen“ sei. Die Türkei rief ihrerseits dazu auf, die „Angriffe“ russischer und syrischer Kampfjets auf die Regierungsgegner in der syrischen Region Idlib zu beenden.
Expertin Khalifa zufolge könnte die Türkei in den kommenden Tagen ihre Haltung ändern: Sollte es den Dschihadisten gelingen, ihre Geländegewinne zu halten, werde das „ein Test dafür“, ob die Türkei in Syrien „aufs Ganze geht“, wie sie AFP sagte. Wie die Kämpfe weitergehen, dürfte zudem stark von Entscheidungen in Moskau abhängen.
Bürgerkrieg seit 2011Der syrische Bürgerkrieg hatte 2011 begonnen, nachdem Präsident Assad Proteste gegen die Regierung mit Gewalt niederschlagen ließ. Eine halbe Million Menschen wurde getötet und Millionen weitere vertrieben.
Mit der Unterstützung ihrer Verbündeten Russland und Iran erlangte die syrische Regierung 2015 die Kontrolle über weite Teile des Landes zurück. Auch die Großstadt Aleppo eroberte Assad im Jahr 2016 mit Unterstützung der russischen Luftwaffe mittels starker Bombenangriffe zurück. Im Norden Syriens gilt seit 2020 ein von der Türkei und Russland vermittelter Waffenstillstand, der zwar immer wieder gebrochen wurde, aber die Region in den vergangenen Jahren weitgehend beruhigt hatte.