Festnahmen im Fall Marielle Franco zeigen korrupte Strukturen in ...

Die Festnahmen im Fall Marielle Franco zeigen: Kriminalität, Polizei und Politik sind in Rio de Janeiro nicht voneinander zu trennen

Marielle Franco - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Brasiliens Justiz hat die mutmasslichen Drahtzieher des Mordes an der Politikerin Marielle Franco festgenommen – sechs Jahre nach der Tat. Der Mordfall lässt tief in die Strukturen der brasilianischen Metropolregion blicken.

Marielle Franco lächelt im Januar 2018 in die Kamera. Zwei Monate später wurde die Stadträtin von Rio de Janeiro ermordet.

Ellis Rua / AP

Sechs Jahre und zehn Tage nach dem Mord an der Stadträtin Marielle Franco in Rio de Janeiro wurden zwei Politiker und ein ehemaliger Polizeichef als mutmassliche Drahtzieher verhaftet. Die 38-Jährige war am Abend des 14. März 2018 zusammen mit ihrem Fahrer in ihrem Auto erschossen worden. Ihre Assistentin überlebte schwer verletzt. Der Mord im Zentrum von Rio de Janeiro sorgte 2018 weltweit für Aufsehen.

Die Stadträtin des linken Partido Socialismo e Liberdade (PSOL) hatte sich seit 2017 für die Bewohner der Armenviertel von Rio eingesetzt. Dabei hatte sie die illegalen geschäftlichen Interessen der zwei Politiker offenbar gestört. Ausserdem schien die Afro-Brasilianerin, die mit einer Frau verheiratet war, besonders das konservative politische Establishment zu provozieren, sowohl durch ihre unerschrockene Art als auch durch ihre wachsende Popularität.

Während der geständige Mörder der Abgeordneten – ein bekannter Auftragskiller – schon seit Jahren in Haft sitzt, verliefen die Ermittlungen nach den Drahtziehern immer wieder im Sand. Im vergangenen Jahr beauftragte Brasiliens Justizminister erstmals die Bundespolizei mit der Untersuchung. Im Januar soll nun der Auftragskiller im Rahmen einer Kronzeugenaussage Hinweise gegeben haben, die nun zu den Festnahmen geführt haben.

Der Polizeichef persönlich plante den Mord

Überraschend ist, dass mit Rivaldo Barbosa der damalige Chef von Rios Zivilpolizei als Tatverdächtiger verhaftet wurde. Barbosa war am Vortag des Mordes als Polizeichef Rios eingesetzt worden. Zuvor hatte er jahrelang die Mordkommission der Stadt geleitet. Er versprach Francos Angehörigen, dass er den Fall als «persönliche Mission» behandeln werde, und blieb über die Jahre ihr wichtigster Vertrauter.

Nach den Festnahmen wurde nun bekannt, dass Barbosa schon Jahre zuvor an der Planung des Mordes beteiligt gewesen sein soll. Als er Chef der Zivilpolizei wurde, die für die Ermittlungen zuständig war, soll er den Drahtziehern garantiert haben, dass sie nicht verurteilt würden. Damit behinderte Barbosa die Ermittlungen vom ersten Tag an. Er sorgte etwa dafür, dass die Aussenaufnahmen der Filmkameras am Tatort verschwanden.

Über die Beteiligung der anderen Drahtzieher des Verbrechens kursierten in Rio de Janeiro schon länger Gerüchte. Es handelt sich um Chiquinho Brazão, einen Abgeordneten des Nationalkongresses, und seinen Bruder Domingos, ein Mitglied des Rechnungshofes des Bundesstaates Rio de Janeiro. Beide sind seit Jahrzehnten in der Politik als Abgeordnete auf Landes-, Stadt- und Bundesebene für verschiedene Parteien aktiv. Sie wurden mehrfach wegen Korruption vorbestraft, verbüssten Gefängnisstrafen, wurden jedoch wiederholt freigesprochen.

«Kriminalität, Polizei und Politik sind in Rio de Janeiro nicht voneinander zu trennen», sagt jetzt Marcelo Freixo, der als Abgeordneter mehrere Untersuchungsausschüsse gegen die organisierte Kriminalität in Rio de Janeiro geleitet hat. Bis heute wird sein Leben aufgrund eines von ihm im Jahr 2008 geleiteten Untersuchungsausschusses in dem Bundesstaat, der international für Aufsehen sorgte und sogar verfilmt wurde, bedroht.

Die beiden Brüder Brazão sind Teil der mächtigen Milizen in Rio de Janeiro. Dabei handelt es sich um eine Form der organisierten Kriminalität, die vom Inneren des Staates aus organisiert ist. Korrupte Polizeibeamte arbeiten dabei Hand in Hand mit den Milizen und der Politik. In Rio de Janeiro haben die Milizen inzwischen in vielen Teilen der Peripherie die Kontrolle übernommen und verdrängen zunehmend die Drogenbanden.

Die Milizen garantieren den Politikern die Stimmen

Die Milizen gehen dabei systematisch vor: Als Polizisten und ehemalige Sicherheitskräfte etablieren sie in den Armenvierteln der Vororte ihr Gewaltmonopol. Zum Teil besetzen sie illegal Flächen, um sie dann wie Immobilienentwickler zu erschliessen.

Dort monopolisieren die Milizen dann Dienstleistungen wie den Internetzugang, den öffentlichen Nahverkehr oder den Verkauf von Kochgas und erhöhen die Preise. Ladenbesitzer müssen Schutzgeld bezahlen und immer öfter übernehmen die Milizen in diesen Gebieten auch den Drogenhandel. Für die beteiligten Politiker ist eine Zusammenarbeit interessant, weil die Milizen bestimmen können, wer in dem Stadtteil gewählt wird.

Die Abgeordnete Franco war besonders im Westen Rios aktiv, wo die Milizen die Region dominieren. Sie soll die Brüder Brazão verärgert haben, weil sie soziale Nutzungen von Wohngebieten durchsetzen wollte, welche die beiden Politiker für sich reklamiert hatten.

In Rio de Janeiro seien die meisten Politiker in irgendeiner Form in illegale Netzwerke verstrickt, sagt Freixo. Das erklärt auch, warum sich die Regierungen in Rio wie auch in Brasilia zurückhalten, die Festnahmen als Erfolg zu feiern.

Denn die Brüder Brazão verdanken ihren Einfluss in der Politik und dem Staatsapparat teilweise der Hilfe von Lulas Arbeiterpartei PT. Doch auch die Verbindungen zum Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro sind offensichtlich: Der Rechtspopulist steht zu seinen traditionell engen Beziehungen zu den Milizen in Rio de Janeiro. Der geständige Mörder etwa war ein Nachbar und guter Bekannter von Bolsonaro in einer geschlossenen Wohnanlage in Rio.

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