'Kleine schmutzige Briefe': Hass-Rede in der Vor-Internet-Ära

27 Mär 2024

„Diese Geschichte ist wahrer, als man meinen würde“, heißt es zu Beginn des Films. In der englischen Kleinstadt Littlehampton hatten sich um das Jahr 1920, kurz nach dem Großen Krieg, zwei Nachbarinnen, Rose Gooding (Jessie Buckley) und Edith Swan (Olivia Colman) angefreundet. Obwohl sie eigentlich wenig gemeinsam haben, entwickelt sich eine Beziehung zwischen der lebhaften, trinkfreudigen Rose und der frommen, zugeknöpften Edith. Doch irgendwann kommt es zum Streit zwischen den beiden, und sie gehen einander aus dem Weg.

Kleine schmutzige Briefe - Figure 1
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Als Edith plötzlich „kleine schmutzige Briefe“ mit immer schlimmeren Beleidigungen erhält, fällt der Verdacht schnell auf Rose. Ihre Neigung zum Fluchen macht sie zur idealen Verdächtigen. Die (männlichen) Polizisten, an die sich Edith wendet, sind überzeugt von Roses Schuld. Nur Gladys Moss (Anjana Vasan), die einzige Polizistin der Stadt, zweifelt daran und setzt alles daran, den wahren Täter zu finden, um Rose zu entlasten, und zu verhindern, dass ihr das Sorgerecht für ihr Kind entzogen wird. 

Kleine Briefe

„Kleine schmutzige Briefe“ beruht auf einer wahren Begebenheit, die in Littlehampton (West Sussex) einen Skandal auslöste, der ganz England in Atem hielt. Der Inhalt der anonymen Briefe wurde immer anzüglicher und ließ das ganze Land rätseln, wer der Täter oder die Täterin sein könnte.

Der Film enthält zwar Krimi-Elemente, da er die Frage nach der Autorenschaft aufwirft. Doch im Drehbuch des britischen Comedians und Schauspielers Jonny Sweet, der hier sein Kino-Debüt als Autor gibt, wird schnell klar, von wem die Briefe wirklich stammen. Regisseurin Thea Sharrock („Ein ganzes halbes Jahr“, 2016) rückt nicht so sehr die Krimi-Elemente in den Mittelpunkt, sondern die leicht überzeichneten Figuren.

Edith Swan wird als „gottesfürchtige Kirchgängerin“, ja sogar als „bigott“ dargestellt, die bei ihren Eltern Edward (Timothy Spall) und Victoria (Gemma Jones) lebt und ihnen Gehorsam schuldet.

Kampf um Gerechtigkeit

Rose hingegen wird als das genaue Gegenteil porträtiert: eine alleinerziehende Mutter aus Irland, die wenig Interesse an Hausarbeit hat und in der kleinbürgerlichen Gesellschaft Anstoß erregt, etwa wenn sie allein in den Pub geht. Schnell ist die ganze Stadt davon überzeugt, dass sie die „kleinen schmutzigen Briefe“ verfasst hat.

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Ausnahme ist, wie gesagt, die einzige Polizistin. Anjana Vasan verkörpert Moss nicht nur als prinzipientreue Frau, die für Gerechtigkeit kämpft und sich gegen ihre männlichen Kollegen behaupten muss, sondern auch mit einer gewissen Komik. Olivia Colman (bekannt aus „The Crown“, wo sie Queen Elizabeth II. darstellt) spielt mit sichtlichem Vergnügen die klischeehafte alte Jungfer Edith, die von ihrem herrischen Vater tyrannisiert wird. Übrigens überzeugt auch Timothy Spall in der Rolle des Vaters.

Es sind diese bis in die Nebenrollen schrulligen Figuren, die nicht nur für eine Prise Humor sorgen, sondern auch den eigentlichen Kern des Films ausmachen: Nicht nur Ediths Eltern, sondern auch die tratschenden Mitbürgerinnen und sogar die Polizisten – all diese Figuren sind klischeehaft bis karikaturhaft gezeichnet. Selbst die Ermittlungsmethoden haben etwas Komisches an sich. Auch wenn die Handlung stellenweise stockt, entschädigen die skurrilen Einfälle und exzentrischen Charaktere.

Hassrede

Der Film berührt andererseits ein sehr aktuelles Thema: „Kleine schmutzige Briefe“ behandelt eine Art „Hass-Rede“ avant la lettre – die hasserfüllten Anschuldigungen in den Briefen zeigen, dass es bereits ein ganzes Jahrhundert vor der Verbreitung der berühmt-berüchtigten „Hassrede“ im Internet Ähnliches gab. Pauschalurteile gab es offensichtlich schon immer.

Die menschliche Natur bleibt gleich. Zwar ist es heute in der Anonymität des Internets einfacher, solche Hassnachrichten zu verbreiten, und auch schwieriger, den Urheber zu ermitteln. „Kleine schmutzige Briefe“ verdeutlicht jedoch, dass die Menschen heutzutage nicht schlechter sind als vor hundert Jahren.

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