„Zeit Verbrechen“-Podcast als Serie: Noch einmal mit Gefühl

Wird ein Roman zum Film, folgen die Reaktionen einem erwartbaren Skript: Erst lesen, dann gucken, finden Fans. Und bevorzugen die Vorlage doch. Der Film verdient es, als eigenständiges Kunstwerk bewertet zu werden, finden Kritiker. Einige Filme schenken den Büchern ein neues Leben, wie beim Science-Fiction-Hit „Dune“. Oder sie überschatten die Vorlage, wie bei „Forrest Gump“. Aber was macht es mit einer Geschichte, wenn sie nicht bloß vom Papier auf die Leinwand gebracht wird? Wenn eine wahre Begebenheit zu einem Zeitungsartikel wird, der zur Podcastfolge wird, die zum Film wird? Und das auch noch in einem Genre, das so beliebt wie berüchtigt ist: True Crime. So nennt man die journalistische, dokumentarische oder fiktionale Auseinandersetzung mit echten Kriminalfällen.

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Foto FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Herausfinden lässt sich das am Beispiel der Miniserie „Zeit Verbrechen“. Die Regie verantworteten Mariko Minoguchi, Jan Bonny, Helene Hegemann und Faraz Shariat. Bis auf Fernsehkrimi-Veteran Bonny stehen die Filmschaffenden am Anfang ihrer Karriere, sind höchstens Mitte 30. Hegemann etwa ist Autorin und Moderatorin, Shariat machte sich mit queerfeministischen Produktionen wie dem Spielfilm „Futur 3“ einen Namen. Entsprechend heterogen ist die Serie. Jede Folge steht für sich, behandelt in neuer Besetzung einen neuen Fall. Gemeinsam scheint ihnen nur eins zu sein: Alle Folgen basieren auf Episoden von „Zeit Verbrechen“, dem Kriminalpodcast der Wochenzeitung „Die Zeit“.

In Deutschland ist das eine der erfolgreichsten Sendungen im True-­Crime-Bereich. Wissenschaftsjournalist Andreas Sentker und Gerichtsreporterin Sabine Rückert führen darin durch Recherchen, die zuvor im Blatt erschienen sind, verflechten dabei persönliche Anekdoten der Beteiligten mit Eindrücken aus Ermittlung und Vollzug. In einigen der Folgen erzählen Gäste von ihren Texten oder geben Fachmeinungen ab. Oft geht es aber um Rückerts eigene Geschichten. Sie steht im Zentrum des Formats, spricht selbstbewusst, einnehmend, manchmal flapsig. Sentker überlässt ihr gern das Rampenlicht, sagt Sätze wie „Das wollen wir an dieser Stelle noch nicht verraten.“

Spannung und Sojakekse

Die Beliebtheit der Sendung spiegelt sich nicht nur in diversen Podcastcharts, sondern auch im gut gefüllten Online-Shop. Dort finden sich ein Verbrechen-Magazin, Bücher, Stoffbeutel, Kaffeetassen, außerdem das „Verbrechen Genuss-Set“. Es besteht aus einem Kartenspiel zum Podcast, Sojakeksen und einem Gewürzmix namens „Tropical Cocktail Dip“. Geschmacklos? Zumindest bringt dieser Fanartikel eine häufige Kritik an True Crime auf den Punkt: Hier werden Katastrophen mit realen Opfern und Tätern zu Unterhaltung gemacht. Allein das ist noch kein Vergehen. Überhaupt sind die moralischen Grenzen nicht immer deutlich zu ziehen. So benötigen die gesellschaftlichen Ungleichheiten, die vielen Verbrechen zugrunde liegen, Aufmerksamkeit. Und alle guten Geschichten einen Spannungsbogen. Ihn so zu spannen, dass das Publikum gern weiterhört, er aber nicht effektheischend daherkommt, erfordert viel Fingerspitzengefühl.

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Im besten Fall erzählen Podcaster nach sorgfältiger Recherche und mit dem Segen der Beteiligten – so sind einige „Zeit Verbrechen“-Ausgaben nur entstanden, weil Angehörige sich an die Redaktion gewandt haben. Das Publikum gewinnt idealerweise Einblicke in die Mechanismen der Justiz und soziale Missstände. Ein Anspruch, den viele Produktionen hochhalten, doch nur wenige erfüllen. Die Netflix-Serie über den Serienmörder Jeffrey Dahmer zeigt es: Angehörige der Opfer protestierten vergeblich gegen den Dreh, die vermeintliche Glorifizierung des Mörders und die Ausbeutung ihres Leidens. Zwei Jahre nach Erscheinen ist „Dahmer“ heute die dritterfolgreichste Produktion des Streamingdienstes.

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Foto FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Sexualisierte Gewalt und Morde, gerade an Frauen, sind beliebtes Material für True-Crime-Formate – und anfällig für die Aufrechterhaltung gesellschaftlich verankerter Mythen. Dazu gehören etwa die Täter-Opfer-Umkehr oder das – in der Realität selten vorkommende – Stereotyp der Frau, die aus Rache oder Berechnung einen Übergriff erfindet. Davon ist auch „Zeit Verbrechen“ nicht immer frei. So geriet die Folge „Das Mädchen mit der blauen Matratze“ über eine mutmaßliche Vergewaltigung an einer US-Hochschule in die Kritik. Das Medienmagazin „Übermedien“ titelte: „Wie frauenfeindlich kann ein Podcast sein?“

Von Ghana bis Nordrhein-Westfalen

Der Serie dürften solche Kontroversen erspart bleiben. Statt typischer True-Crime-Fälle bietet sie ambivalente Geschichten, die ihr Publikum lieber länger im Ungewissen lassen, als allzu simple Lösungen anzubieten. Es geht um Lovescamming zwischen Ghana und Deutschland, um Verrat zwischen allerbesten Freunden, um fahrlässige Tötung in der Provinz und um all die Körperflüssigkeiten, mit denen Lars Eidinger in seiner Rolle als Drogengangster in „Der Panther“ hantiert.

Dort springt er als V-Mann Johnny hyperaktiv durch die Hinterzimmer Nordrhein-Westfalens. Seine Tochter prostituiert er und zwingt sie, Drogen zu verkaufen. Die Schnitte sind schnell, ein Showdown scheint unausweichlich. Die Farben im Bild sind entsättigt, vermitteln, wie hart das Leben als Bandit ist. Vor allem, weil Johnny es nicht mehr will und dafür das Lieblingsgedicht aller tiefgründigen Rüpel bemüht: Rilkes „Panther“. Diese Episode, inszeniert von Jan Bonny, wirkt als einzige wie aus einer klassischen Krimiserie. Spannender sind die anderen Folgen. Sie zeigen Menschen, in deren Leben das Verbrechen unerwartet einschlägt.

So wie bei Ralf, einem Rentner in der Folge „Love by Proxy“. Online lernt er eine junge Amerikanerin kennen. Was romantisch anfängt, geht dramatisch weiter. Bald bittet sie Ralf nach einer vermeintlichen Entführung in Ghana um Geld. Die Geschichte ist geprägt von Einseitigkeit, bei der eine Seite liebt, die andere betrügt. Diese Wahrnehmungskluft inszeniert Faraz Shariat mit einem so eleganten Perspektivwechsel, dass etwas Seltenes gelingt: Empathie mit Opfer und Täter – ein Gefühl, das sich beim Hören der dazugehörigen Podcastfolge kaum einstellt. Auf dem Bildschirm sieht man den traurigen, sturen Ralf, den selbst seine Tochter (gespielt von Sandra Hüller) nicht mehr erreicht. In der Originalsendung erscheint er als verzweifelter, jähzorniger Lustmolch. Wo die Serie auf Gefühl und Uneindeutigkeit setzt, bietet der Podcast deutlichere Erklärungen.

Maya Simonsen als Online-Betrügerin Earlie in der Episode „Love by Proxy“RTL

Besonders sichtbar ist das bei der Episode „Unsere Brüder“. Zu sagen, dass es darin um Freundschaft gehe, wäre untertrieben. Die sechs jungen Männer aus Hamburg kennen sich seit dem Kindergarten und stellen im Leben alles hinter ihre Gemeinschaft. Rauschhaft kommt diese von Helene Hegemann inszenierte Folge daher. Die Kamera wackelt, alles sieht aus wie aus der Hand gefilmt. Es ist schwer, die Figuren zuzuordnen, so sehr steht das Kollektiv im Vordergrund. Die Folge springt zwischen den Wohnungen, dem Gerichtssaal und der zerfallenden Psyche von Protagonist Cem hin und her. Anstrengend ist das, aber intensiv. Die Podcastfolge bietet sich gerade hier als Bonusmaterial an. Da ist etwa die Szene, in der Cem (hypnotisch gespielt von Zepthphan Smith-Gneist) Blumensträuße in Kristallvasen zu Boden schleudert. Erst im Podcast versteht man, dass es Muttertagssträuße sind, über Jahre mit Haarspray haltbar gemacht. Die starke familiäre Beziehung spürt man in der Serie dennoch.

Ruhiger geht es in „Dezember“ zu. Die Folge beginnt banal: Ein Teenager trinkt im Club zu viel, fällt auf die Straße und wähnt sich zunächst in Sicherheit. Erst kommt der Rettungswagen, dann die Polizei, die lässt ihn gehen, dann kommt sie wieder und lässt ihn im Stich. Samuel Benito spielt die wachsende Verzweiflung dieses trunkenen Beinahe-Kindes so überzeugend, dass wenig anderes passieren muss. Acht Minuten lässt Regisseurin Minoguchi ihn entlang einer dunklen Landstraße zittern und taumeln. Alle haben ihn verlassen, bis auf die Kamera. Bis auf das Publikum, das nichts tut. Und das in diesen acht Minuten genug Zeit hat, sich zu fragen, wie es selbst in so einer Nacht reagiert hätte. Im Podcast wäre so eine Passage undenkbar. Dort steht das Behördenversagen im Mittelpunkt, es ist ein noch stärkerer Blick von außen. Die Verfilmung hingegen vermittelt ein Gefühl von Ausgeliefertsein, die ganz subjektive Angst.

Weil dem Podcast die Bildebene nicht zur Verfügung steht, müssen Geschichten eindeutiger erzählt, Fachgutachten und Gerichtsurteile eingeordnet werden. Die Serie braucht das nicht. Ihre Macher nutzen den Raum für Ambivalenz, legen Wert auf Atmosphäre und fast durchgehend überzeugende Darsteller. Dafür erhalten sie hoffentlich viel Aufmerksamkeit. Mit so einem bekannten Titel stehen die Chancen dafür nicht schlecht.

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