Zeit, Demografie und Musik im Christentum am Beispiel von Der ...

4 Tage vor

Auch gestern wurde ich wieder auf den Zweifel junger Menschen angesprochen: “Sollen wir in diese Welt überhaupt noch Kinder setzen?” Diese Frage klingt sehr modern, ist aber als sog. Anthropodizee-Frage seit Jahrtausenden belegt und von hoher, nicht nur philosophischer Relevanz. Und da hier auf “Natur des Glaubens” zuletzt Blog-Dialoge über Evolution, Zeit & Demografie sowie über Zeit, Sinn und Musik hervorragend geglückt sind, biete ich dazu noch einen Blogpost.

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Ich möchte Sie dabei bitten, erst einmal die Entwicklungen über die Jahrtausende, Jahrhunderte und Generationen hinweg zu betrachten, statt gleich wieder in einen zustimmenden oder ablehnenden Dualismus zu verfallen. Wissenschaft & Dialog verlangen: Erst verstehen, dann beurteilen.

Verrinnt die Zeit oder schreitet sie voran? KI-Personifizierungen von Zeit und Demografie für den Blogpost “Evolution, Zeit und Sinn”. Michael Blume mit Leonardo.AI, Oktober 2024

In der hebräischen Bibel – der Tora, deren jüdischer Feiertag als Simchat Tora 2023 von der Hamas angegriffen wurde – wird diese Frage mehrfach pronatal beantwortet. So wird dem Menschen laut 1. Mose 1, 28 als erstes aller Gebote aufgetragen:

“Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan, und herrschet über Fische im Meer und über Vögel unter dem Himmel und über alles Tier, das auf Erden kreucht.”

Diese Lebensbejahung wird in der Noah-Erzählung wiederholt. In der Sarah-Hagar-Abraham-Geschichte (1. Mose 15:5) wird die zahlreiche Nachkommenschaft sogar bereits als Segen gedeutet:

Und er hieß ihn hinausgehen und sprach: Siehe gen Himmel und zähle die Sterne, kannst du sie zählen? Und sprach zu ihm: Also soll dein Same werden.

Heute sind jüdisch-religiöse Familien wieder durchschnittlich kinderreich, werden etwa in Israel derzeit um die 3 Kinder pro Jüdin geboren. Das hat selbstverständlich auch kulturelle, politische, wirtschaftliche und militärische Auswirkungen. Und trotz des NS-Vernichtungsantisemitismus gibt es heute wieder jüdisches Leben in allen Nationalstaaten des EUSALP-Alpenraums.

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Derzeit begegnen sich sehr unterschiedliche Religions- und Familienkulturen sommers in Davos, Schweiz. Screenshot zum RTR-Film: Michael Blume

Mit der apokalyptischen Naherwartung im frühen Christentum setzte jedoch eine Rückkehr der familienskeptischen Anthropodizee ein: In der sog. Parusieverzögerung bis zur erwarteten Rückkehr des Messias Jesus galt die Ehe mit Kindern zeitweise nur als Notlösung, um Sünde zu vermeiden. Christinnen und Christen sollten stattdessen so viel wie möglich missionieren. So hieß es noch im 1. Korintherbrief des reisenden Paulus, 7,7 – 7,9:

Ich wünschte, alle Menschen wären (unverheiratet) wie ich. Doch jeder hat seine Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so.

Den Unverheirateten und den Witwen sage ich: Es ist gut, wenn sie so bleiben wie ich.

Wenn sie aber nicht enthaltsam leben können, sollen sie heiraten. Es ist besser zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren. 

Ein enthaltsames, dann bald auch zölibatäres Leben galt lange Zeit dominant als christliches Ideal. Erst mit dem Buchdruck und der Reformation bildete sich das kinderreiche, evangelische Pfarrhaus als Keimzelle eines christlichen Bildungsbürgertums.

Die kinderreiche Familie der ehemaligen Zisterzienserin Katharina von Bora (1499 – 1552) und des ehemaligen Augustinereremiten Dr. Martin Luther (1483 – 1546) wurde vom kirchlichen Skandal zum christlichen Ideal. “Familie Luther” von Gustav Spangenberg, 1875

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Im Kontext der Säkularisierung wandte sich dann wiederum der ehemalige Landpfarrer und dann säkularisierende Nationalökonom Thomas Robert Malthus (1766 – 1834) mit seinem sog. “Bevölkerungsgesetz” gegen kinderreiche Familien. Die bis heute verbreitete, vor allem säkulare Angst vor der sog. “Überbevölkerung” trug erheblich zur Entstehung von Sozialdarwinismus und Eugenik, aber auch zur Neubelebung der Anthropodizee-Frage und zu Freiheitsrechten für Verhütung und Abtreibung bei. Neomalthusianische Drukos tauchen auch auf diesem Blog immer mal wieder auf. So wenden sich sog. Climate-Overshoot-Argumentationen inzwischen vor allem gegen Völker des sog. globalen Südens.

Drei Repräsentanten von drei Demokratien: Eine Brasilianerin, ein Mexikaner, eine Nigerianerin. Michael Blume mit Leonardo.AI für einen hoffnungsvollen Solarpunk-Blogpost

Mit dem sog. “Pillenknick” ab den späten 1960er Jahren beschleunigt sich der säkulare Geburtenrückgang so stark, dass spätestens zur Mitte dieses Jahrhunderts mit einer weltweiten Bevölkerungsschrumpfung zu rechnen ist.

Inzwischen versuchen islamische Radikale wie die afghanischen Taliban, US-amerikanische Rechtsdualisten um Donald Trump und russische Altherren-Ressourcenfluch-Imperialisten um Wladimir Putin die Freiheitsrechte junger Menschen und vor allem junger Frauen zu beschneiden, um wieder höhere Geburtenraten zu erzwingen. Doch nach aller Erfahrung führt Zwang in der modernen Welt nur immer tiefer in die demografische Traditionalismusfalle. So berichtet auch t-online:

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Kremlchef Putin meldet sich in der Debatte auch persönlich zu Wort. In einer Rede lobte er beispielsweise Großfamilien und rief Frauen dazu auf, acht Kinder zu bekommen – mindestens. Dafür setzt der Kreml auch finanzielle Anreize: So erhalten Mütter mit zehn oder mehr Kindern eine Einmalzahlung von umgerechnet 11.000 Euro vom Staat. Und seit 2022 wird auch der Titel “Mutter-Heldin” wieder vergeben – auch dies ein Relikt aus der Sowjetzeit. Ob sich die demografische Krise mit solchen Mitteln lösen lässt, erscheint allerdings als unwahrscheinlich.

Unter den Bedingungen von Religionsfreiheit sammeln sich dagegen in den verbleibenden, liberalen Demokratien christlich-pronatale Stimmen gerade auch um Sängerinnen, die die Anthropodizee-Frage nach Kindern in der Zeit als freie Wahl und positiv beantworten.

So wurde der Song “The Blessing” der US-Gospelsängerin Kari Jobe zum internationalen Hit – die allerdings auch in die Kritik geriet, weil sie eine Einladung Trumps zum Gebet ins Weiße Haus angenommen hatte. “The Blessing” greift den sog. aaronitischen Segen aus der Tora für die Israeliten (4. Mose 4, 23 ff.) auf und verknüpfte ihn mit einem Segen auf Kinderreichtum über mehrere Generationen hinweg.

Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich:So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet:Der Herr segne dich und behüte dich;der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.

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In Deutschland wurde dann 2020 eine deutsche Übersetzung als “Der Herr segne Dich” von Markus Fackler und Veronika Lohmer gesungen. Anstelle der paulinischen Skepsis gegen das Weitergehen der diesseitigen Zeit hören wir hier einen ganz anderen Ton:

“Seine Gunst sei immer auf dirUnd auf tausend derer nach dirAuf den Kindern deiner KinderUnd den Kindern ihrer Kinder

Seine Gunst sei immer auf dirUnd auf tausend derer nach dirAuf den Kindern deiner KinderUnd den Kindern ihrer Kinder

Seine Gunst sei immer auf dirUnd auf tausend derer nach dirAuf den Kindern deiner KinderUnd den Kindern ihrer Kinder”

Selbstverständlich wird es noch Jahrzehnte und Generationen benötigen, bevor auch das Christentum wieder aus dem säkularen Geburtentief herausfindet – bis dahin steht nicht nur in Europa ein massiver Bevölkerungsrückgang an.

Aus evolutionsforschender und religionswissenschaftlicher Sicht ist es jedoch faszinierend zu sehen, wie sehr sich auch grundlegende Narrative in Religionen und Weltanschauungen über die Jahrtausende, Jahrhunderte und Generationen hinweg verändern können. In Abermillionen kulturell vielfältiger Diskurse und auch ganz persönlicher Entscheidungen passen wir uns als Menschheit immer wieder neu an unsere Mitwelt an. Autoritäre Ideologen und Ressourcenfluch-Tyrannen, der feindselige Dualismus – diese vermögen das nicht.

Aus meiner Sicht ergibt sich aus der ruhigen Betrachtung also eine grundsätzliche Wertschätzung von Menschenwürde, Freiheit und Vielfalt auch in Kultur und Religion(en), von wehrhafter Demokratie und kritisch-konstruktivem Dialog. Wer dagegen meint, die biokulturelle Evolution top-down planen und bestimmen zu können, verhebt sich m.E. an Größenwahn. Lebe Deine Werte im Dialog, Diktaturen hatten und haben wir genug…

Für Kinder braucht es Quellen der Zuversicht. Ein Solarpunk-Motiv im Angesicht der fossil befeuerten Klimakrise. Michael Blume mit Leonardo.AI

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