Listang: IOR-Vierteltonner war seiner Zeit voraus
Es waren schräge Zeiten mit merkwürdigen Booten: Die wilden siebziger Jahre, die Blütezeit des seinerzeit führenden Handicap-Systems der International Offshore Rule (IOR), standen unter dem Einfluss einer Experimentierfreudigkeit und Innovationskraft, wie sie erst heutzutage im Zeitalter der foilenden Boote und Yachten wieder auftritt.
Das gilt ganz besonders für die sogenannten Vierteltonner, jene kleinste der populären Tonnerklassen, die sich von den berühmten Eintonnern ableiteten. Die Vierteltonner wurden zum Spielfeld für Konstrukteure – mit fallweise optisch fragwürdigen Ergebnissen.
Dieses Boot hier beispielsweise schreit nicht nur in knalligem Siebziger-Jahre-Orange in Kombination mit sattgrünen Aufbauflanken, sondern zeigt sich auch noch als Backdecker mit einem Löffelbug, der aussieht wie der Schnabel eines Papageitauchers. Vom Steven aus vergeht bis zum Mast erst einmal eine ganze Menge Schiff, denn das Rigg steht so weit achtern, dass es locker als Besanmast durchginge. Dahinter reicht dem Backdeck die restliche Bootslänge gerade eben noch, um in ein geschwungenes, breites Cockpit überzugehen. Aber so war das eben 1970 – als IOR entwickelt wurde und Konstruktionen einander jagten, die immer radikaler wurden.
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Während dieser IOR- Urschleim-Phase konnte es gar nicht schreiend genug sein, das neue Formeldach löste weltweit einen gewaltigen Bau- und Experimentierboom aus. Die großen daraus entstandenen Eintonner waren seriöse Schiffe; die Vierteltonner, die ihnen dutzendweise folgten, blieben immer etwas punkig. Ein früher Beitrag aus Deutschland zu den sportlichen Taschenseekreuzern gewann die Weltmeisterschaft und sorgte für reichlich Furore in der ohnehin bunten Szene.
Das Boot aus Stahlblech war leicht und voll gleitfähig
Dieser Vierteltonner vom Typ Listang, gezeichnet vom Hamburger Karl Feltz, gehört zu einer Serie der einst schnellsten Schiffe der Welt. Die erlesene Crew gewann 1969 vor dem holländischen Breskens souverän die Weltmeisterschaft – etwas, das Deutschen bis zum Ende der Vierteltonner- Ära 1997 nie mehr gelingen sollte.
Harald Schwarzlose, damals Navigator und später Chefredakteur der YACHT, erinnert sich: „‚Listang‘ war eine Zusammenarbeit von Ulrich Libor, dem Olympiazweiten im Flying Dutchman, und Feltz. Ulli wollte einen Seekreuzer, der gleiten konnte. Feltz zeichnete ein Boot, dessen Rumpf ähnlich wie bei einem Jollenkreuzer flach wie eine Flunder war, der Bug rund und füllig wie heute wieder, nicht scharf wie bei den damaligen Seekreuzern. Das Heck breit und flach, wie bei den heutigen modernen Yachten, mit einer scharfen Abrisskante. Der Kiel eine kurze Flosse mit tiefliegendem Ballast. Auch dies war damals neu. Der Rumpf (Ulli: ‚leicht, leicht, leicht!‘) wurde aus papierdünnem Blech auf dicht nebeneinander stehenden, sehr schmalen Stahlspanten geschweißt. So einen Leichtbau hatte die Yachtszene noch nie gesehen.
Der Freundeskreis Klassischer Yachten nennt den Listang die erste „Konsumyacht“, weil der kleine Backdecker später (wie viele andere erfolgreiche Vierteltonner im Übrigen auch) als Serie massenhaft in GFK gebaut wurde und Kleinkreuzer-Familien ein Raumwunder bot. Gebaut wurde der Ur-Listang jedoch aus Stahl.
Wieder Harald Schwarzlose: „Bereits auf der Schelde zeigte der Listang seine Überlegenheit gegenüber den anderen konventionell aus Holz gebauten Yachten. Das flexible Rigg bewährte sich, das Großsegel konnte ohne Reffen den herrschenden Windverhältnissen angepasst werden. Wir gewannen alle Inshore-Regatten.“
Alle! Hier fand eine Revolution statt! Noch heftiger empfand das jedoch jener Teil der Yachtgemeinde, der nicht auf aktuelle Entwicklungen bei Jollen und Olympia geschielt hatte. Denn diejenigen, die vor 50 Jahren als junge Männer mit diesem wohl schrägsten aller Avantgarde-Boote die Weltmeister der Vierteltonner überragend gewannen, kamen aus der Jollenecke.
Listang vereint Spitzencrew
Skipper Ulrich Libor – Spitzensegler in der Gleitjolle Flying Dutchman – paktierte damals mit dem quasi unbesiegbaren Engländer Rodney Pattison. Libor gewann jeweils in Pattisons Kielwasser zwei Medaillen (Acapulco und Kiel), insgesamt segelten fünf FD-Medaillen an Bord von „Listang“.
„Die Entscheidung – und das Fiasko –kam bei der von allen gefürchteten Hochsee-Nachtregatta. Der Wind hatte stark zugenommen, sollte während der Regatta Sturmstärke erreichen. Der Wetterbericht: Nordwest fünf bis sechs zunehmend, in Böen sieben bis acht.“
Der legendäre FD-Champ Pattison (zweimal Gold, Silber, dreifacher Weltmeister) ist zwar zum Bordbesuch nicht dabei, doch Harald Schwarzlose und Ulli Libor freuen sich beim Revival unter Deck dieses knallorangen Serienbootes, eines der letzten noch segelnden Listangs, wie bei einem Klassentreffen nach 50 Jahren auch ohne ihn.
An und unter Deck gibt es fast nichts, was Eigner Karl-Heinz Grünberg nicht verändert hat. Er hat an Bord geheiratet, ist bis nach Norwegen getourt, hat dem Boot eine effektive Latten-Baumfock verpasst und das Interieur mehrfach umgebaut. Aber die originalen Segel hat er immer noch.
Beim Segeln merkt man die Besonderheit des Listang noch heute. Denn das skurrile Boots-Bündel macht irgendwie Spaß, auch wenn es mehr einer Mini-Scow ähnelt als einem Vierteltonner – weil mit ihm eine tänzerische Gangart und das Gleiten größerer Boote erfunden wurde. Zwar fehlt bei diesem Serienboot das damals fast unbekannte, extrem flexible 7/8-Rigg, aber die ulkige Segel-Geometrie ist geblieben. Die riesige Genua übertrifft bei Weitem das winzige Großsegel an Fläche, das lediglich wie eine Trimmklappe wirkt. Grünberg: „sieht aus wie ein Piratengroß“.
Listang: Schönes Segeln geht anders
„Ulli steuerte ein trimmbares Rigg bei, das er vom Star her kannte. Der Mast ließ sich wie ein Flitzebogen krümmen, sodass sich das Groß oben öffnete.“ Listang funktioniert. Das riesige Kraftwerk-Hauptsegel namens Genua macht den Eindruck, als stünde es mit seinem Schwerpunkt direkt über dem des Schiffs, es reißt es mit Macht voran. Geschrickte Kurse auf kleinen Wellen sind ganz klar Stärken, gemessen sogar an heutigen Booten.
Schnell zeigt sich jedoch eine extreme IOR-Eigenart des Listang: Er vertreibt früh und stark; es ist immer etwas Speed und die Balance beider Segel nötig. Zieht nur eins, geht die Kontrolle schnell flöten. Der Listang nimmt damit zwar ein IOR-typisches Extrem vorweg, aber schön geht anders. Der schmale Flossenkiel mag radikal sein, aber er ist eben klein und der Hebel riesig. Und mit 45 Kilogramm aufrichtendem Moment bei 90 Grad Lage (gemessen von der YACHT) spielt das Boot klar in der ranken Liga.
„Unser größter Konkurrent war der Holländer Hans Kortekaas. Er segelte ein modifiziertes Waarschip ‚725 Vierteltonner‘, ein Sperrholzbau und daher mit 1,10 Tonnen Verdrängung sehr leicht. Er kam besser mit dem kabbeligen Seegang zurecht und segelte davon. Der Listang stampfte stark in den kurzen Seen, sein recht flacher, runder Bug schlug hart in die Wellen. Kaum hatten wir die Schelde verlassen und befanden uns auf der offenen Nordsee, briste es auf. Der Seegang wurde ruppig. Die Kreuz ging bis zum Feuerschiff ‚North Hinder‘.“ Weil der kleine Kiel schnell zum typischen Merkmal von IOR-Yachten wurde, trugen Yachten oft Steckschwerter oder Canards zur Schau, so auch „Listang“.
Bei Regatta geben Schweißpunkte des Bootes auf
„Ich saß als Navigator meist unter Deck und kontrollierte auf der Seekarte unseren Kurs. Der Krach war ohrenbetäubend. Die dünne Blechhaut schepperte und ächzte. Plötzlich platschten meine Füße ins Nasse. Wir machten Wasser! Ich ortete schnell die Quelle: der Schwertkasten im Vorschiff! Ich stopfte einen Seesack in die Öffnung.“
Schwarzloses Navigation beruhte hauptsächlich auf Koppeln. „Wir hatten zwar so einen Handfunkpeiler, mit dem man Bushmills oder Stavanger hören können sollte, aber ich bezweifele, dass je einer mit so einem Ding einen ordentlichen Fix ermittelt hat. Außer der Funkfeuer konnte man da alles hören.“
Auf der Nordsee rabenschwarze Nacht. „Weiße Schaumköpfe auf riesigen Wellen. Wo war der Blink des Feuerschiffs? ‚Listang‘ hämmerte sich durch das Getöse. Böen acht! Endlich, gegen Mitternacht, der erlösende Ruf des Rudergängers: ‚Blink voraus!’ Von der Konkurrenz keine Spur. Langsam dämmerte es uns: Wir waren Letzte.“ Startete nun die spektakuläre Aufholjagd mit einem demolierten, aber gleitenden Schiff? Nein, die Katastrophe ging jetzt erst richtig los.
„Plötzlich unter Deck ein lautes Knirschen und Knacken. Erschreckt sah ich im Licht der Taschenlampe, dass die Spanten im Bugbereich begannen, sich nach innen zu verbiegen. Die blecherne Außenhaut war abgerissen, die Schweißpunkte hatten versagt. Bei jedem Einsetzen in einen Wellenberg flappte die Außenhaut mit lautem Knall gegen die verbogenen Spanten. Die Blech-Außenhaut würde aufbrechen, wir würden in wenigen Minuten untergehen. Ich schrie nach draußen: ‚Wir saufen ab!‘
“I think it´s spinnaker time”
Jetzt ging es rund. Ulli zertrat einen Teil der Einrichtung, sägte den Spibaum in Stücke und stützte die Blechhaut von innen. Später kam Peter Schweer in die Kajüte, mit einer Puk-Säge. Er sägte, zertrat und verkeilte weiter. Das Flappen und Knallen der Außenhaut hörte auf! Danach saßen wir vier draußen im Cockpit. Ich hatte meine Füße auf die Rettungsinsel gestellt, die auf dem Cockpitboden lag, fertig zum Überbordwerfen. Ich konnte des Zitterns meiner Knie nicht Herr werden. Ulli segelte jetzt etwas tiefer, die Bewegungen des Schiffs wurden erträglicher.“
Erstaunlich, wie das kleine Boot auf minimale Winkeländerungen reagiert. Zu den vielen Dingen, die Eigner Grünberg geändert hat, gehört das Abschlagen des Ruderskegs. Wie beim Prototyp steckt jetzt ein Balanceruder im Schiff. „Der Vormwind-Kurs zurück in die Schelde stand an. Riesige Wellenberge, die uns überholten. Rodney steckte seinen Kopf zum Niedergang hinaus und verkündete: ‚Well, I think it’s spinnaker time.‘ Ich dachte, der Kerl ist verrückt. Am Horizont einige Punkte – unsere Konkurrenz. Auf keinem Schiff hatte man den Spi gesetzt. Nach einer Stunde hatten wir die voraus liegenden Yachten eingeholt. Nur auf einem einzigen anderen Schiff hatte man nun auch den Spi gezückt: Hans mit seinem Waarschip! Doch gegen ‚Listang‘ benahm es sich wie eine lahme Ente.“
In Führung liegend gab es dann noch ein Missverständnis wegen einer zu passierenden Tonne. Bei der Erwähnung des Sachverhalts wirken Libors Gesichtszüge noch heute etwas gequält. Was einmal mehr beweist, dass Navigatoren keine Wettfahrten gewinnen können – nur verlieren. Harald Schwarzlose: „Fast hätte uns meine Nachlässigkeit den Sieg gekostet. Aber nun war er uns nicht mehr zu nehmen. Triumphierend kreuzten wir mit dem schwer angeschlagenen Listang die Ziellinie. Dann lagen wir uns in den Armen, lachten und schrien unser Glück heraus. Wir hatten den Pokal gewonnen, waren Weltmeister im See-Segeln.“
Listang geht in Serie
Als die Serie kam, kümmerte sich der spätere Professor H. Dieter Scharping um die GFK-Struktur, und der Listang ging mit dem Segen des Germanischen Lloyd in den Serienbau. Denn die Baumethode „Seitenwände-etwas-höher-und-Deckel-drauf“ war damals neu in Deutschland. Sie erwies sich als ausgesprochen günstig und Raumwunder schaffend, sodass die YACHT bereits in den Siebzigern voller Sorge fragte: „Verbackdeckern wir jetzt?“
Feltz, Scharping, Blohm + Voss: Das urdeutsche Trio mit seinem Projekt Listang hatte insofern etwas von Udo Lindenberg. Dieser beförderte ebenfalls Anfang der Siebziger mit sehr avantgardistischen Ansätzen die deutsche Musik nachhaltig aus der Schlagerecke und machte sie salonfähig.
„Listang“ ging sogar noch einmal an den Start – als Halbtonner. Formelfummeleien ließen das Boot in IOR relativ wachsen, und mit mehr Segelfläche und Ballast passte es neuerdings in die größere Vermessung. Nicht neu war die Fähigkeit, raumschots tief fliegen zu können. Auch jene WM hätten sie fast gewonnen. Denn der Plan war, die anderen jeweils raumschots plattzumachen, und vor der vielfach gewerteten Langstrecke hatten sie Siegchancen. Ulli Libor: „Bei der Wettfahrt waren wir zu schnell für einen Tonnenleger, der eine Tonne hinter uns schmiss, ohne zu merken, dass wir längst vorbei waren. Unser Protest nützte aber nichts.“
Technische Daten des “Listang”
Dieser Artikel erschien erstmals in YACHT 08/2020.
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