Der ARD-Zweiteiler „Wäldern“ misst sich mit Netflix
Ermittlerinnen, die in ihre Heimat zurückkehren, um alte Mordfälle aufzuklären, in die sie familiär verstrickt sind, wurden von den öffentlichen Fernsehsendern erfunden. Bei den Streamingdiensten haben sie eine Inflation erfahren. Es ging mit stadtflüchtigen Kommissarinnen los, und als die Konstellation Netflix und Co. zu eintönig wurde, kamen Psychologinnen und Anwältinnen zum Zug.
Die ARD führt am Mittwoch nun eine völlig neue Berufsgruppe in das Genre ein: eine Pianistin. Lara Glanz, gespielt von Rosalie Thomass, kehrt in ihre Heimat als Musiklehrerin zurück, um nach ihrer Nichte Magda zu suchen, die alle außer ihr für tot halten. Die Polizisten benehmen sich wie Pappkameraden und scheinen die Ermittlungen eher zu behindern, als zu befördern.
Wer will schon zurück zum linearen Erzählen?
Ort der Handlung ist Wäldern, eine Kleinstadt im Bergischen Land, die genretypisch in einer Gegend mit viel Niederschlag und dunklen Forsten liegt. Die erste Szene treibt das Germanentum gleich auf die Spitze, sie spielt in einer Kulisse, die an eine Miniaturausgabe der mystisch aufgeladenen Externsteine im Teutoburger Wald erinnert. Die jugendliche Magda, die man hier in einem Rückblick sieht, fühlt sich von einer Felsspalte magisch angezogen, dreht sich ein paarmal um sich selbst und ist wie vom Erdboden verschluckt.
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Neu für die Form des Heimkehrer-Thrillers sind im öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Mysteryelemente. Zahlreich sind sie von Streamingserien wie „Stranger Things“ oder der deutschen Netflix-Produktion „Dark“ übernommen worden, doch das Ganze wirkt zunächst behäbig.
Die Filmemacher scheinen sich vorgenommen zu haben, die ersten 60 Minuten komplett linear zu erzählen. Es gibt viele Botenberichte und noch mehr Redundanzen. Es fehlt der Spin, es gibt nichts zu erahnen. Der geheimnisvolle Greis, der mit wehenden Haaren und verklärten Augen plötzlich im Wald neben Lara Glanz auftaucht, wirkt harmlos, die Pianistin zu keiner Zeit gefährdet. Zahlreiche Spannungsmomente hat man sich hier entgehen lassen. Dass okkulte Formeln entschlüsselt werden, indem sie mit einem Tonbandgerät rückwärts abgespielt werden, wirkt gar unfreiwillig komisch und erinnert an den Badesalz-Sketch „Satanische Botschaft“ („Riiippschenmitkrraut“).
Zugegeben, dies alles ist durch die Brille einer ihrerseits längst gleichförmig gewordenen Streamingästhetik gesehen, aber will irgendwer im Jahr 2024 in einen Zustand uninspirierter Linearität zurück? Offensichtlich nicht, denn nach gut einer Stunde tut sich was in „Wäldern“. Nach dem Auftreten der esoterischen Heilpraktikerin Dorothea Freiberg (Sabine Vitua) ist der daueralkoholisierte Professor Klein (Peter Franke) die erste Nebenfigur, welche in ihrer Skurrilität interessiert. Plötzlich hat sich ein Geisterjägerteam zusammengetan – und es ist eine hübsche Pointe, dass es im deutschen Rundfunk ein Durchschnittsalter von Ü60 vorweist.
Gegenspielerin einer verborgenen Horrorwelt
Auch filmisch wird es jetzt spannender. Es kommt zu Überblendungen und Parallelhandlungen, das Geschehen gewinnt an Tempo, als Zuschauer atmet man geradezu auf, die Mysteryelemente werden glaubhafter. Richtig gruselig wird es aber erst eine Viertelstunde vor Schluss. Symbolisch verwandelt sich der spießige Chorgesang vom Anfang im Hintergrund in einen ätherischen Stockhausen-Sound. Aus diesen eher zaghaften musikalischen Anklängen – der Komponist lebte im Bergischen Land – hätte man atmosphärisch noch viel mehr machen können.
Die Filmemacher (Regie: Till Franzen) verfügen über die nötigen Mittel, das wird deutlich. Warum zeigen sie es nicht von Anfang an? Ein verordnetes Zugeständnis an den ARD-Zuschauer, der es vermeintlich gern langsam und übersichtlich angehen lässt? Das alte Ärgernis.
Im zweiten Teil ist noch ein Kind verschwunden, das jedoch wieder auftaucht, weitere Gestalten wechseln die Welten. Wieder ist der lineare Erzählanlauf groß, doch auch der zweite Film gewinnt an Format. Hilfreich ist dabei das Zwillingsmotiv, welches recht offensichtlich Jordan Peeles Mysterythriller „Us“ entliehen ist, hinzu kommt ein finsterer Bunker, den Lara Glanz aus ihren Träumen kennt. Die Ermittlerin wird zur Gegenspielerin einer verborgenen Horrorwelt, Rosalie Thomass zeigt dabei zunehmend Statur.
Ihre Nichte hat Lara Glanz am Ende des zweiten Teils noch nicht gefunden, doch eine Spur ist gelegt, der Boden für Fortsetzungen ist bereitet. Ob das auf Dauer ohne weitere Übernahmen von den einschlägigen Streamingserien trägt, wird man sehen. Einem Riesensender wie der ARD sollte es doch gelingen, dem etwas Eigenes entgegenzusetzen.
Wäldern, Teil 1: Das verschwundene Mädchen, Mittwoch, 20.15 Uhr; Wäldern, Teil 2: Das Böse in den Spiegeln, Freitag, 22.20 Uhr, im Ersten.