Werder Bremen gegen Hoffenheim: Klüger werden, aber schnell
Otto Rehhagel, die Älteren werden sich erinnern, hatte als Trainer ein Faible für schlaue Spieler. Eine Anekdote, die der inzwischen 85-jährige Fußball-Weise bis heute erzählt, handelt von der aus einer personellen Notlage heraus erforderlichen kurzfristigen Umschulung des Stürmers Marco Bode zum Linksverteidiger. Ob er wisse, "Herr Bode, weshalb Sie linker Verteidiger gespielt haben?", habe er den Spieler gefragt, aber der wusste es nicht. Rehhagel sagte: "Weil Sie Abitur haben und es deshalb viel schneller begreifen sich umzustellen."
Nun waren auch in der langen Werder-Ära Rehhagels nicht alle seine Spieler Blitzbirnen wie Bode, der sich die Freizeit mit Schach und Literatur vertrieb, aber ein bisschen Köpfchen hat auch im Fußball noch niemandem geschadet. Das galt in den 1980er-Jahren von Rehhagel und ist auch heute nicht anders.
Und damit willkommen in der Gegenwart von Werder Bremen, in der man sich nur schwerlich vorstellen kann, wie der aktuelle Trainer Ole Werner etwa mit "Herrn Friedl" bespricht, welche Noten er in der Schule hatte, der Herr Friedl aber schon darüber gesprochen hat, wie schlau sich seine Mannschaft am Samstagabend gegen die TSG Hoffenheim anstellte. Spoiler: nicht unbedingt superschlau. Das Spiel ging 2:3 verloren - aber wie ...
Friedl ist als Kapitän des SV Werder so etwas wie der Vorarbeiter auf einer Wanderbaustelle, an der Weser "Abwehr" genannt. Er fehlte zuletzt dort selbst und kehrte nun zurück, dafür fehlte jetzt Amos Pieper. Niklas Stark fehlt schon länger, und dann wurde noch der Linksverteidiger Oliver Deman krank, für den Anthony Jung wieder in die Mannschaft rückte. Irgendwo dahinten ist immer irgendwas kaputt bei den Bremern, man könnte mit den Umstellungen einen halben Oberstufen-Jahrgang beschäftigen. Ergebnis: 17 Gegentore in sieben Spielen, acht davon gegen die Aufsteiger Heidenheim und Darmstadt. Schon bei diesen verheerenden Pleiten war der eine oder andere Bremer Spieler der Ansicht, dass man sich ganz offensichtlich nicht allzu gewitzt angestellt habe beim Verteidigen. "Bodenlos" fand etwa Marvin Ducksch den jüngsten Auftritt in Darmstadt (2:4).
In Bremen haben die Menschen ein feines Gespür dafür, wann ihr Verein an einem Punkt angekommen ist, wo er eine herzliche Umarmung seiner Stadt gebrauchen könnte. Das ist in den vergangenen Jahren meistens in der Schlussphase einer Saison passiert, rauschende Empfänge des Mannschaftsbusses vor dem Stadion, plakatierte Brücken und Unterführungen in den Straßen, flächendeckende Beflaggung aller Balkone oder ein Auswärtstrip von mal eben 25 000 Bremern nach Berlin: Wenn's gegen den Ab- oder um den Aufstieg geht, sind sie da, die Fans. Dass es nun schon vor dem siebten Spieltag einen nicht alltäglichen Fanmarsch durchs Viertel gab, jenes stadionnahe Bremer Quartier, in dem Spiele unter Zuhilfenahme des breiten gastronomischen Angebots vor- und nachbesprochen werden, zeugt von einer früh in dieser Spielzeit besorgten Grundstimmung. Schlechter war saisonübergreifend kein Team der Bundesliga im Kalenderjahr 2023. Zeit, dass sich was dreht.
Es herrscht eine besorgte Grundstimmung im sensiblen BremenDafür, dass sich was dreht, soll so bald wie möglich Naby Keïta zuständig sein. Der Überraschungstransfer des Sommers ist so etwas wie der Harry Kane des SV Werder, ein wahrer Bessermacher mit Premier-League-Erfahrung - sofern er denn spielen kann. Als eben jener Harry Kane mit den Bayern zum ersten Saisonspiel an die Weser gereist war, waren auch Journalisten von der Insel mitgekommen, zum Kane-Gucken. Die amüsierten sich dann, Keïta gegen die Münchner genauso zu erleben wie in den vergangenen fünf Jahren beim FC Liverpool: Da habe man ihn auch schon nicht spielen sehen. Das fällt wohl unter die Kategorie britischer Humor.
Keïta war viel und lange verletzt, und tatsächlich startete er auch gleich mal mit einem Museklbündelriss im Oberschenkel in seine Zeit in Bremen. Die soll in der Fantasie des Anhangs eigentlich an jene Werder-Episoden anknüpfen, als ikonische Spieler wie Micoud, Diego, Özil oder De Bruyne das Weserstadion verzauberten. Ja, wirklich, DER De Bruyne!
Gegen Hoffenheim stand Keïta endlich zum ersten Mal in der Startelf, besser wurde dadurch allerdings nichts. Noch immer gibt es Phasen im Bremer Spiel, in denen die Mannschaft in einer Art kollektivem Phantomschmerz lange Bälle nach vorne schlägt, dorthin, wo noch bis ins sich knarzend schließende Transferfenster hinein ein Lücke stand, wo nun aber eine Lücke ist. "Lücke", so ruft man den nach Dortmund abgewanderten Stürmer Niclas Füllkrug, einen so genannten Ziel- oder Wandspieler für zum Beispiel lang nach vorne geschlagene Bälle. Die Bremer verloren in der ersten Halbzeit gegen Hoffenheim, aus der sie nach Toren von Maximilian Beier (0:1, 8. Minute), Romano Schmid (1:1, 17. Minute) und Grischa Prömel (29. Minute) mit einem 1:2-Rückstand gingen, satte zwei Drittel ihrer Kopfballduelle, in der Offensive gefühlt sogar eher fünf Viertel. An Keïta lief das Spiel sozusagen drüber hinweg. Nach knapp einer Stunde wurde er ausgewechselt, der Oberschenkel, und man ahnt es schon: Keïta bleibt bis auf Weiteres ein Versprechen.
Die bis dahin überlegene TSG hatte indes versäumt, das Spiel zu entscheiden, und sie tat dies trotz großartiger Möglichkeiten etwa von Kevin Vogt oder Florian Grillitsch auch danach nicht. Überdies waberten nun Nieselregenschwaden unter den flammenden Flutlichtmasten hinweg ins Weserstadion, wodurch ein Hauch jener besonderen norddeutschen Magie entstand, in der plötzlich alles möglich erscheint. So durfte sich Werder, nun flach und schnell statt weit und hoch, in dieses Spiel zurück kämpfen - und das Spiel selbst sich seiner Pointe nähern, der Nachspielzeit.
Werders Bemühungen führten in der ersten Minute dieser Nachspielzeit zum Ausgleich durch Jens Stage, als Lohn einer "sehr, sehr guten zweiten Halbzeit", wie Trainer Werner fand. Werner, der Fußballlehrer, spricht viel und oft von Entwicklung und Lernprozessen seiner eigentlich gar nicht mehr so jungen Mannschaft. In der vergangenen Saison verblüfften die Bremer oft den Gegner dadurch, dass sie sogar während eines Spiels so viel lernten, um es in der Nachspielzeit noch zu gewinnen. Late to the Party, dann aber richtig: Der entschlossene Ausgleich durch Stage mit dem Schlusspfiff im Nacken erinnerte an das Bremen der vergangenen Saison, als die Aufstiegseuphorie Werder durch die Hinrunde trug wie ein fliegender Teppich.
Und damit - endlich - zurück zu Herrn Friedl, Marco Friedl, dem Kapitän. "Dumm, einfach dumm" sei es gewesen, was sich rund 80 Sekunden nach dem 2:2 ereignete, sagte der Kapitän, in späteren Interviews differenzierte er etwas: Man habe sich in den entscheidenden Momenten "zu blöd" verhalten. Dumm, blöd, doof, egal: Den Gästen genügte ein simpler Einwurf, der vom Bremer Jung zum Hoffenheimer Marius Bülter verlängert wurde, um das Spiel doch noch zu gewinnen. Für TSG-Trainer Pellegrino Matarazzo war der Treffer Ausdruck des, aufgepasst, "neuen Mindsets des Vereins", der einfach nicht noch mal gegen den Abstieg spielen wolle. Früher, etwa zu Otto Rehhagels Zeiten, hätte man es vielleicht einfach "Glück" genannt.
Für Werder-Coach Werner war das Tor hingegen ein neuerlicher Anlass, "daraus zu lernen und Fehler abzustellen". Vielleicht lässt er sich in der Länderspielpause für die nächste Abwehrkette ja doch mal die Schulabschlüsse seiner Defensivspieler kommen.