Matthias Jäggi Radiopredigt Eine Weihnachtsgeschichte Nice socks ...

24 Dez 2023
Weihnachtsgeschichte

In seiner letzten Radiopredigt erzählt uns Matthias Jäggi eine moderne Weihnachtsgeschichte. Sie berichtet von Ver-Menschlichung, einer ungeplanten Weihnachtsfeier und von Rosa und Jusuf. Gestrickte Socken spielen in dieser Geschichte eine Hauptrolle.

Matthias Jäggi*

Es war einsam geworden auf dem Egghof, seit ihr Mann gestorben war. Das alte Bauernhaus auf der Jurahöhe viel zu gross. Sie strickte gerne, das machte die Abende etwas kurzweiliger. Nach Weihnachten würde ihre Enkelin Mia zu Besuch kommen. Darauf freute Rosa sich sehr. Jetzt war sie auf dem Weg an die offene Weihnachtsfeier der Kirchgemeinde.

Es war eng in der Asylunterkunft. Jusuf teilte sich das Zimmer mit fünf anderen jungen Männern. Er lag auf dem Bett, in Gedanken bei seiner Familie im Bergland nördlich von Kabul. Sein Vater arbeitete früher als Chauffeur bei einem Schweizer Hilfswerk. Seit der Machtübernahme der Taliban wurde die Familie regelmässig bedroht. Wegen Kollaboration mit den Ungläubigen. Jusuf dachte gerade an seinen Aufbruch vor bald einem Jahr, als es im Zimmer plötzlich nach Rauch roch und kurz darauf die Feuermelder losheulten. Ein Betreuer kam angerannt. «Raus, raus, leave the building, immediately!»

Böser Blick und Charmoffensive

So kam es, dass an diesem Heiligen Abend nicht nur die angemeldeten zwanzig Alleinstehenden im Saal des Kirchgemeindehauses sassen, sondern auch gut ein Dutzend Flüchtlinge. Die Kirchgemeindepräsidentin war bekannt mit dem Leiter der Asylunterkunft und hatte sich bereit erklärt, in den Kellerräumen der Kirche über die Festtage ein Notlager einzurichten. Im freiwilligen Kochteam hatte es zuerst ein bisschen rumort. «Im Advent um die Häuser schleichen und sich an Weihnachten bedienen lassen», schimpfte jemand – und wurde dafür von der Nachbarin zur Linken mit einem ganz bösen Blick bedacht. Dank tatkräftigem Support des Sigristen und einer Charmeoffensive der Pfarrerin lag der Fokus aber bald wieder auf dem Festmenü: Tortelloni tricolore, im Voraus ein Salätchen mit filetierten Orangenschnitzen und Baumnusskernen, zum Dessert Weihnachtsguetzli von einer Hofbäckerei.

© pixabay jill111 CC0

Weihnachten

Ver-Menschlichung anstatt Ent-Menschlichung

Zwischen Hauptgang und Dessert gab es wie gewohnt «Stille Nacht». Auch einige der Flüchtlinge summten mit. Dann ergriff Pfarrerin Keller das Wort. «Dear guests, liebe Gäste», begann sie und gab dann ihrer Freude Ausdruck über den überraschenden Gästemix. «Ein bisschen wie damals im Stall», meinte sie, «da sind sich auch allerlei Menschen begegnet. – Sagt doch alle einmal der Reihe nach euren Vornamen.» Die Gäste taten es: «Achmed, Oksana, Jusuf, Selam. Walti, Rosa, Ruedi, Theres ….» Dann warf Frau Keller einen Blick in die Welt: «Hass macht blind, und wo wir einander nicht mehr sehen, einander nicht mehr begegnen, beginnt die Entmenschlichung.» Sie nahm Bezug auf die Gewalt im Nahen Osten und auf die Zunahme von Hassrede auch hier, vor allem online, wo man einander eben nicht wirklich sehe. Gottes Menschwerdung an Weihnachten lade ein, sich aufzumachen um einander zu sehen. Statt Ent-Menschlichung Ver-Menschlichung, Empathie, Mitgefühl. Statt Hass, der blind macht, Zuwendung, die die Augen öffnet. «Schaut doch noch einmal, wer hier und jetzt in diesem Raum sitzt!»

Nice Socks, isn’t it?!

Rosa musste lächeln. Ihr Blick ruhte in diesem Moment weder auf der Pfarrerin, noch auf einer anderen Person im Saal, sondern auf einem Paar farbiger Wollsocken, verziert mit einem aufwändigen Muster. Sie folgte der Einladung der Pfarrerin, hob den Kopf und schaute dem Sockenträger ins Gesicht. Der lächelte sie an. Freundlich und mit etwas Schalk in den Augen.

«Ob er wohl bemerkt hat, wie ich auf seine Füsse gestarrt habe? Das wäre ja voll peinlich», dachte Rosa und realisierte, wie ihr plötzlich heiss wurde. Zum Glück beendete Frau Keller die Wendet-euch-zu-Runde und stimmte zum Abschluss des besinnlichen Teils das obligate «O du fröhliche» an. «Nice Socks, isn’t it?!», strahlte Jusuf Rosa an, die jetzt schräg hinter ihm für einen Espresso anstand. «Ähm, ja, very nice, ihre Socken», antwortete Rosa leicht überrumpelt. «Mein Name ist Jusuf, nice to meet you!», sagte dieser munter. «Rosa!», murmelte sie. «Ah, wie die Blume!» So kamen sie ins Gespräch, halb auf Deutsch, weil Jusuf von seinem Vater ein paar Brocken gelernt hatte, halb auf Englisch, weil Rosa vor 50 Jahren als Au Pair in England war.

Kaschmir-Ziegen am Hindukusch

Jusuf erzählte von seinem Dorf, 200 Kilometer nördlich von Kabul, am Rand des Hindukusch. Er erzählte von seiner Familie und wie ihn seine Wollsocken an seine Mutter erinnern. Sie hätten zu Hause Kaschmir-Ziegen und seine Mutter würde aus der Wolle Teppiche weben und Socken stricken. Drei Paar habe er mitgenommen auf die Flucht und sei froh gewesen um die warmen Füsse in den kalten Nächten unterwegs. – «Ich stricke auch», sagte Rosa und zog ihre Hosenbeine leicht nach oben. Darunter erschienen blau-grün geringelte Wollsocken. «Nice Socks, hübsche Socken!» nickte Jusuf anerkennend, und beide grinsten über alle vier Ohren ob des doch eher ungewohnten Themas für einen ersten Small Talk. «Eigentlich habe ich sie für meine Enkelin Mia gestrickt», sagte Rosa. «Aber die meinte: Oma, in fünf Jahren dann vielleicht wieder, ich habe noch 24 Paar zu Hause.» Ihre Socken seien aus Schafwolle, erzählte sie weiter. Sie hätten Schafe auf dem Hof, aber die müsse sie jetzt nach dem Tod ihres Mannes wohl verkaufen. Sie schaffe das nicht mehr alleine.

Bauernhaus statt Asylunterkunft

Statt im Keller des Kirchgemeindehauses schlief Jusuf in der Nacht auf den 25. auf dem Egghof, in der kleinen Wohnung, die Rosa und ihr Mann vor vielen Jahren für die Lehrlinge eingerichtet hatten, die jeweils für ein Jahr auf dem Hof lebten. Den Umgang mit den Schafen hatte er im Nu gelernt. Und als die Asylunterkunft kurz nach Neujahr wieder bezogen werden konnte, blieb Jusuf auf dem Egghof. Das hatte auch mit Mia zu tun. Diese kam wie angekündigt am Stefanstag zu Besuch. «Oma, Oma!», kam sie angerannt, nachdem sie das E-Bike an die Hauswand angelehnt hatte. «Da ist einer in der Lehrlingswohnung.» – «Ja, Jusuf!» – «Was, Jusuf? Oma, geht’s dir gut?»

©  kath.ch

ProSpecieRara-Schafe: Engadinerschafe mit Jungen

Die Folgen des Sich-Zuwendens

Bei einem Glas Punsch und einem Stück Apfelkuchen erzählten Rosa und Jusuf der verdutzten Mia, wie sie nach der Wendet-euch-zu-Übung von Pfarrerin Keller miteinander ins Gespräch gekommen seien. «Ja, bravo», dachte sich Mia, «da geht meine Oma an eine Weihnachtsfeier für Alleinstehende und kommt mit einem jungen Mann aus Afghanistan nach Hause.» – Es wurde ein entspannter Abend. Die drei lachten viel. Rosa vergass für ein paar Stunden, dass sie Witwe war, Jusuf, dass er Flüchtling war und Mia, dass sie dringend eine Idee brauchte für das Projekt «Startup» am Gymnasium.

Let’s start up!

Die Idee kam am nächsten Morgen, als Jusuf und Mia gemeinsam den Stall machten. «Du machst ja jetzt den Stall», sinnierte Mia, «Rosa hat deshalb noch mehr Zeit zu stricken, bringt die Socken aber nicht los.» – «Ja, und?», blickte Jusuf sie fragend an. «Jetzt machen wir einen Online-Shop für Wollsocken!» Es dauerte einen Moment, bis das bei Jusuf angekommen war. Dann liessen sie ihrer Fantasie freien Lauf. Als sie später mit Rosa am Frühstückstisch sassen und begeistert von ihrem Projekt erzählten, fiel ihnen auch ein Name zu. «Nice Socks!», schlug Rosa vor. «Jusufs erste Worte an mich, nach Pfarrerin Kellers Andacht über den Hass, der blind macht, und die Zuwendung, die die Augen öffnet und uns mitfühlen lässt.

Fünf Minuten später hatte Mia den Domain-Namen reserviert: nicesocks.ch. Und auf der Startseite würde stehen: Rosa, Mia und Jusuf – Nice Socks and more.

Liebe Hörerinnen und Hörer, mit dieser Weihnachtsgeschichte verabschiede ich mich von Ihnen. Danke, dass Sie mir fünf Jahre lang zugehört haben. Es war eine schöne Aufgabe, am Radio zu predigen. Frohe Festtage Ihnen und «Bhüet Sie Gott!»

*Matthias Jäggi ist evangelisch-reformierter Pfarrer in Frick.

Bibelstelle : Lukas 2,1-20

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© Katholisches Medienzentrum, 24.12.2023

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