Eine Weihnachtsgeschichte von 1914: Franz Adam Beyerleins ...
Die literarische Skizze „Wintersaat“ des Leipziger Schriftstellers ist zuerst in der Wiener Tageszeitung „Die Zeit“ am zweiten Weihnachtsfeiertag 1914, dann 1915 in seinem Buch „O Deutschland, heil’ges Vaterland! Erzählungen aus dem Weltkriege“ (Heilbronn, Verlag Eugen Salzer), und schließlich am 20. Juni 1915 in den „Leipziger Neuesten Nachrichten“ erschienen.
Seit Beginn des Ersten Weltkrieges bis Anfang Dezember 1914 verzeichnete die von der Hinrichs’schen Buchhandlung in Leipzig herausgegebene Bibliographie des deutschen Buchhandels rund 1.400 Titel, die mit dem Kriege in Beziehung stehen. Die vorliegende Arbeit von Franz Adam Beyerlein dürfte ihrem Inhalt nach eine Ausnahme sein.
Die in der Skizze beschriebene Szene hat, wie man es von Beyerlein auch von seinen anderen ähnlichen Schriften kennt, einen zeitgeschichtlichen Hintergrund. Dieser liegt im Regierungsbezirk Gumbinnen in Ostpreußen, wo die Stadt und der Landkreis Insterburg vom 24. August bis 11. September 1914 und ein zweites Mal im Oktober 1914 von russischen Truppen besetzt worden ist.
„Die Wintersaat“ ragt als Ausnahme aus der Masse der Weltkriegs-LiteraturDer oben erwähnte Unterschied der literarischen Skizze von F. A. Beyerlein zur Masse der Titel, die mit dem Kriege in Beziehung stehen, zeigt sich in folgender Begebenheit:
Der lahme Justus mit seinem einäugigen Schimmel ist zurückgeblieben, als der Gutsbesitzer mit dem Gesinde vor den Russen bei Insterburg flieht. Justus lassen die Russen in Ruhe, er wohnt in einer Kate am Waldrand. Es ist eigentlich Zeit für die Aussaat des Getreides, das Saatgut liegt tief im Walde in einer Wildfütterung versteckt. Justus sieht eine Egge liegen und überlegt, dass er säen könnte. Nur die Russen dürfen das nicht merken, sie könnten vielleicht etwas dagegen haben. Da bleibt nur die Nacht. Justus holt das Saatgut aus dem Wald und beginnt nach dem Dunkelwerden mit der Arbeit.
Nun folgt eine bewegende Szene: „Als der Mond sich aus dem Dunst des Horizonts emporgehoben hatte, stand Justus auf und reckte sich. Den Schimmel ließ er angeschirrt in seinem Stand, der kam später an die Reihe. Umständlich schlang er das Säetuch um Schultern und Hüfte und maß sich den Roggen aus dem Sack zu. Es war ihm fast feierlich dabei zu Sinne, er meinte, wohl der außergewöhnlichen Stunde halber. Liebkosend ließ er die Körner zwischen den Fingern durchgleiten, sie schienen ihm gar köstlich und gewichtiger, mit Fruchtbarkeit geeigneter denn je.
Am Saum des Ackers hält er inne und schaute prüfend nach dem Mond; o ja, die blanke Sichel gab ausreichend Licht. Dann trat er in eine der flachen Furchen und schritt in ihr entlang, indem er mit weitausholenden Würfen den Samen über die harrende Erde hinstreute. Die Körner leuchteten im Mondenlicht wie Perlen, und hin und wieder warf eines einen spiegelnden Funken.
Zwanzigmal, wie er es sich vorgesetzt hatte, schritt Justus das langgestreckte Feld auf und nieder, dann führte er den Schimmel aus dem Stall und spannte ihn vor die Egge. Fügsam und treu legte sich das Tier in die Sielen, wie vorher der Sämann schritt es sauber geradeaus, und hinter ihm deckte die Egge die Saat mit der mütterlichen Erde zu.
Rückkehrend näherte sich der Schimmel der Düsternis des Kiefernwäldchens. Da löste sich mit einem Mal eine Gestalt von den Stämmen los und trat hart heran, – ein russischer Soldat mit geschultertem Gewehr.
‚Heda, Onkelchen,’ fragte er auf Russisch, ‚was treibst du hier?‘
Justus verstand ihn; er hatte oft genug an der Grenze mit den Wächtern und Beamten zu verhandeln gehabt. ‚Du siehst es,’ antwortete er, ‚ich säe.‘
‚Ja, ich sehe es. Aber warum säst du mitten in der Nacht?‘
‚Je nun,’ versetzte Justus mit Bedacht, ‚am Tage muß ich laufen und rennen für Seine Exzellenz den Herrn General, so muß ich wohl in der Nacht säen. Denn es ist an der Zeit zu säen.‘
Der Posten nickte. ‚Du hast recht, Onkelchen, es ist Zeit zu säen. Ich, wenn ich daheim wäre, ich würde auch säen. Nun, so werden es mit Gottes Hilfe mein Sohn Fjodor und mein Weib Arina Wlassiewa tun.‘
Mit einem Male nahm er das Gewehr von der Schulter und lehnte es gegen eine Kiefer. ‚Weiß’t du, Onkelchen‘, sagte er, ‚ich werde dir helfen.‘
‚Gott soll es dir lohnen!‘ erwiderte Justus. ‚Also komm’ und säe mit mir!‘ Sogleich aber stieg ihm ein Bedenken auf. ‚Nein,’ warnte er, ‚die Ablösung wird dich erwischen!‘
‚Unbesorgt!‘ wehrte der Russe ab.
‚Da ist ein Muttersöhnchen bei uns, das hat mir einen halben Rubel gegeben, nun steh’ ich Posten für es. Vier Stunden haben wir Zeit.‘
‚Das trifft sich gut. Und jetzt, mit Gottes Hilfe denn! Der Mond wird nicht ewig am Himmel stehen. Willst du säen oder soll ich es tun?‘
‚Säe du, Onkelchen, ich nehme das Pferdchen. Ich habe lange keinen Zügel in der Hand gehabt. Wie kommt es, daß sie dir den Schimmel gelassen haben?
‚Sieh doch, er hat nur ein Auge.‘
‚Gott behüte, ein Auge nur! Aber sonst ist es ein hübsches Pferdchen. Voran denn, Onkelchen!‘
‚Ja, voran!‘
Und die beiden schritten aus dem Schatten hinaus in die silberglänzende Mondnacht und bestellten einträchtig den Acker.“
Und Jahrzehnte später, gegen Ende des 2. Weltkrieges?Eine Zeitzeugin erinnert sich in der LVZ vom 22./23. Januar 2005: „Im 2. Weltkrieg sind dort aus der Gegend die Bewohner endgültig geflüchtet, und zwar die ersten wohl um den 21./22. Oktober 1944. Dann der 22. Januar 1945: Vereiste Straßen und Schneestürme, Temperaturen um die 30 Grad minus, dazu ständiger Beschuß durch russische Artillerie – panisch fliehen die Einwohner aus dem nordostpreußischen Insterburg. Die Russen sind inzwischen bis in die Stadt vorgedrungen. Maschinengewehre hämmern, auch leichte Granatwerfer sind eingesetzt. Die Wehrmacht und der Volkssturm haben der Übermacht der sowjetischen Truppen längst nichts mehr entgegenzusetzen. Tags zuvor schon hatten die Glocken von Insterburg Sturm geläutet. In großer Eile nahmen Lastkraftwagen der Wehrmacht Einwohner mit. Bis zuletzt hatte es für sie Durchhalteparolen gegeben. Gegen 1 Uhr des 22. Januar fährt dann der letzte Zug mit Flüchtlingen aus der Stadt. Seit sechs Tagen währt der sowjetische Großangriff auf Ostpreußen.“
In Leipzig überstehen die Eheleute Beyerlein die Bombennacht vom 3. zum 4. Dezember 1943 mit knapper Not. Franz Adam Beyerlein hilft beim Bergen von Toten in der Ruine des Nachbarhauses. Wie er und seine Frau diese Bombennacht überleben, teilt der Schriftsteller seinen „lieben Afranischen Freunden“ (den einstigen Mitschülern der Fürstenschule St. Afra) am 8. September 1946 in einem Rundbrief mit: „Ich selbst hatte am kalten Morgen des Bombenangriffs ein Erlebnis, dem ich für den Rest meines Lebens dankbar sein werde.
Selbst war ich durch den Luftdruck, der die Fenster samt den Rahmen aus den Mauern riß, Türen zerprellte usw., jählings auf die Nase geschleudert worden und war wohl eine Weile bewußtlos, bis mich die Angstfrage meiner Frau: ‚Lebst du noch?‘ zurückrief. Ich hatte nur den Arm beschunden, im übrigen keine Verletzung und konnte eine Stunde später am Bergen der Verschütteten mitarbeiten. Mit zwei Soldaten, die uns von der nahen Kaserne allein zu Hilfe geeilt waren, suchte ich nach einem vermißten 5-jährigen Mädelchen, dessen Mutter tot ausgegraben war.
(In dem durch Volltreffer zerstörten Haus Norderneyer Weg 6a – Franz Adam Beyerlein wohnte in der Nr. 12, 1. Etage rechts – waren nach jener Bombennacht im Keller des Hauses Nr. 6a acht Leichen geborgen worden – 7 gegen 8.30 Uhr, die achte gegen 16.30 Uhr -, darunter die von Franz Adam Beyerlein erwähnte Mutter, das Mädchen und außerdem noch ihr kleiner Bruder. Es handelte sich um Frau Donath, gesch. Sonntag, geb. Mann, geboren am 23.10.1907 in Leipzig, Frank Donath, geb. am 31.10.1941 in L.-Gohlis, und Heidi Donath, ihr Alter ist angegeben mit „4 bis 5 Jahre alt.“
Ein Mann hatte sich einige Tage später die bei der Frauenleiche gefundenen Wertgegenstände gegen Quittung bei der zuständigen Behörde abgeholt – Stadtarchiv Leipzig, Kap. 72, Nr. 131: „Liste der beim Terrorangriff am 4.12.1943 Gefallenen“).
Der eine Soldat ein älterer Gefreiter, der andere junger Rekrut.
Der alte grob und mürrisch, zu mir, als ich einen Balken weghebeln wollte: ‚Dussel, du willst wohl, daß uns die Bude auf den Kopp fällt?!‘ Aber -! Wir fanden das Kind, halb angezogen, ein Schuhchen am Füßchen, tot; das Köpfchen war ganz zerquetscht. Wir buddelten es aus und betteten es auf eine Schranktür, und ich ließ es ortskundig nach dem Keller tragen, in dem unsere Ärztin verband.
Und wie nun dieser alte Murrsack dem Kindchen die blutigen Löckchen aus der Stirn strich und ihm das Röckchen über die nackten Knie zog, – es war ja bitterkalt – diese schlichten Gebärden gaben mir den Glauben an unser armes mißleitetes deutsches Volk zurück, den ich schon verloren zu haben wähnte. Darüber bin ich von ganzem Herzen froh und dankbar. Denn diesen Glauben hat man fast mit jedem Tag mehr und mehr nötig.“
Franz Adam Beyerlein meldet noch am gleichen Tage dem Hauseigentümer die Schäden an Wohnung und Keller infolge Bombenangriff. Am 30. August 1946 mahnt Franz Adam Beyerlein den Hauseigner, dass die Kellerschäden nicht behoben sind, die notdürftige Bretterwand sei „schon einmal durch Diebesgelichter eingerissen worden.“
Noch eine andere Erinnerung sei hier angefügt, die des Inhaber-Sohnes der Firma Breitkopf & Härtel, Sternwartenstraße 22/Nürnberger Straße 36 und 38, Hellmuth v. Hase (1891-1979):
„In der Nacht vom 3. zum 4. Dezember herrschte eine Kälte von -13 °C bei starkem, eisigem Wind. Kurz vor Mitternacht bekam die Besatzung des Flugabwehrgeschützes Befehl zur Alarmbereitschaft; sie bestand aus dem Geschützführer Hans Völkel und den Männern Bruno Weber, Paul Kuke, Fritz Starke und Kurt Müller. Geschütz und Munition standen feuerbereit.
Der Alarm wurde an unsere Werkschutztruppe weitergegeben. Zunächst vergingen Stunde um Stunde ohne bestimmte Meldungen. Schließlich wurden starke Verbände im Anflug von Westen in Richtung Frankfurt-Leipzig gemeldet, die später in Richtung Bitterfeld-Berlin abdrehten. Dies erwies sich als Finte des Feindes, der kehrt gemacht hatte und nun Leipzig vom Süden und Osten anflog. In dieser Richtung standen unerwartet die ‚Christbäume‘.
Gegen 4 Uhr morgens heulten die Sirenen auf – zu spät, denn gleichzeitig mit dem Alarm fielen schon die Bomben. Etwa 800 Flugzeuge warfen Tausende von Sprengbomben und Hunderttausende von Brandbomben auf die Stadt; die Hölle schien ausgebrochen zu sein. Um die Flakstellung auf unserem Haus brach ein unbeschreibliches Feuermeer empor. Der Angriff selbst dauerte nur etwa 20 Minuten. Die zerstörte Stadt stand in Flammen; über sie brauste ein Feuersturm hinweg.
Die städtische Feuerwehr und die Hunderte von Löschzügen aus der näheren und weiteren Umgebung konnten im Verhältnis zum Umfang der Katastrophe nur verschwindend wenig ausrichten. Es war offensichtlich, daß der Angriff mit Vorbedacht darauf angelegt war, die graphische Industrie der in der ganzen Welt bekannten Druckerstadt Leipzig nebst ihren bedeutsamen Verlagsunternehmen zu vernichten. […].“
Die Bilanz dieses Bombenangriffs unter dem Decknamen „Haddock“ am 4. Dezember 1943: 1.815 Tote, 806 Schwerverletzte, 3.749 Leichtverletzte, 60 Vermißte, 175 nicht identifizierbare Leichen. 400 britische Bomber warfen auf Leipzig in drei Wellen zwischen 3.58 Uhr und 4.25 Uhr insgesamt 1.382 Tonnen Bomben, darunter 90.000 Stabbrandbomben, ab. 2.000 Groß- und 800 mittlere Brände lösten einen Feuersturm aus.
Der Anteil der Toten an der Bevölkerung betrug 0,25%. 13.500 Gebäude sind getroffen worden, davon 3.450 total (4.500 Wohnungen). Die großen Druckereien wie Oscar Brandstetter, das Bibliographische Institut, F.A. Brockhaus, Philipp Reclam, C.G. Röder, Spamer und B.G. Teubner und viele der zum sonstigen Buchgewerbe gehörenden Betriebe sind mehr oder weniger – die meisten bis zur völligen Lahmlegung – zerstört worden – so die Leipziger Zeitung vom 4. Dezember 1946.
Widersprüchliches im Umgang mit dem Erbe des SchriftstellersDer Roman „Jena oder Sedan“ und das Drama „Zapfenstreich“ von Franz Adam Beyerlein, beide Werke erschienen im Jahre 1903, stehen auf einer „Berliner Liste“ im Jahr 1946 der aus den öffentlichen Bibliotheken auszusondernden Literatur.
Am 17. Februar 1949 stirbt Franz Adam Beyerlein in Leipzig.
Am 27. Februar 1949 teilt Stadtdirektor Erich Ott im Auftrag der Stadt Leipzig den Hinterbliebenen (Frau und Tochter) mit: Das Arbeitszimmer solle so belassen werden, wie es zu seinen Lebzeiten gewesen war, und weder Möbelstücke, noch Bücher seiner umfangreichen Bibliothek seien zu veräußern. Das Zimmer werde als Kulturerbe erklärt und nach dem Ableben der letzten Hinterbliebenen vom Stadtgeschichtlichen Museum übernommen. (Bei diesem Versprechen ist es allerdings geblieben).
Auf einer Plenarsitzung der Stadtverordneten im Leipziger Rathaus am 4. Mai 1949 wird einer Ratsvorlage, die Wilhelmshavener Straße zu Ehren des kürzlich in Leipzig verstorbenen Dichters und Antimilitaristen „Beyerleinstraße“ zu benennen, mehrheitlich zugestimmt. So gibt es seit dem 24. Mai 1949 in Leipzig eine Beyerleinstraße.
Interessant ist, was ein Stadtverordneter namens Riemann in der Aussprache zu sagen hatte: „Ich gehöre der gleichen Generation an und habe damals Franz Adam Beyerleins ‚Jena oder Sedan?‘ gelesen, als wir Gelegenheit hatten, unseren Militärdienst zu erledigen, und ich muß sagen, diese Satire gegen Paradedrill, gegen die Überheblichkeit der Unteroffiziere, war uns aus tiefster Seele gesprochen und wir haben das Buch leidenschaftlich von Mann zu Mann gegeben und gelesen.
Etwas verwunderlich war es uns allerdings, daß der ‚Zapfenstreich‘ hinterher kam und er 1914 eine Art Widerruf veröffentlichte, der dadurch hervorgerufen war, daß man in England Riesenauflagen von ‚Jena oder Sedan?‘ gedruckt und unter die Leute gebracht hatte und versicherte: ‚hier wird die Niederlage Deutschlands prophezeit und da muß jeder Engländer das Buch lesen‘, und da fühlte er sich veranlaßt, Einspruch zu erheben. Er war Antimilitarist gewesen, obwohl er lange Zeit hindurch Leutnant gewesen ist.
(Zwischenruf: Er war Feldwebel!) War er nur Feldwebel? (Heiterkeit). Wir haben damals geglaubt, daß er Leutnant gewesen ist, denn das Offizierskasino war derart ausführlich in seinem Buch geschildert, daß man den Sachverständigen vermuten mußte.“
Warum heutzutage Beyerleins literarische Skizze „Wintersaat“ in den modernen Medien nicht mehr zu finden ist, bleibt wohl ein Geheimnis der Medienbetreiber.