Die Christgabe. Eine Weihnachtsgeschichte aus Siebenbürgen

Weihnachten – wer denkt da nicht an den Lichterbaum, an das Beisammensein in trautem Kreis, vielleicht auch an die Christfeier in der Kirche? Jedoch, es gibt auch ein anderes Weihnachten...

Weihnachtsgeschichte - Figure 1
Foto Siebenbürgische Zeitung
Weihnachtsbild in Katzendorf. Foto: Martin Eichler

Der Heilige Abend senkt sich auf das Dorf. Unter dem Sternenhimmel führt uns der Weg an festlich erleuchteten Fenstern vorbei bis zu einem der letzten Häuser. Seine Fenster sind dunkel, doch das soll uns nicht aufhalten, ungehört die Tür zu öffnen und einzutreten.

Im Dämmerlicht erkennen wir einen alten Mann. Er liegt im Bett. Er atmet schwer. Er ist krank und einsam. Vor kurzem hat eine Nachbarin nach ihm gesehen. Dann ist sie gegangen; sie will auch Weihnachten feiern. Nun ist er allein, ganz allein. Sein Blick wandert durch den Raum und bleibt auf einem kleinen, vergilbten Bild haften: eine junge Frau an der Seite eines Mannes; in ihren Armen halten sie ein Kind. „Das war ich, mein Töchterchen. Als wir noch glücklich waren“, sagt der Kranke leise. Erinnerungen steigen in ihm auf...

Wie schön hätte es sein können, ihr Leben! Sie hatten, was sie brauchten, um glücklich zu sein. Hätte er sich nur nicht von denen, die sich seine Freunde nannten, verleiten lassen!

Harmlos hatte es angefangen, mit dem Trinken, doch ehe er sich versah, konnte er es nicht mehr lassen... Man kündigte ihm. Frau und Kind verließen ihn. Und als er diesen Schmerz erst recht im Trinken zu vergessen suchte, brach er endgültig zusammen... Es kam nun, wie es kommen musste: die Trennung von der Frau, das Fortziehen aus dem Heimatdorf. Irgendwo unter Fremden fand er schließlich eine notdürftige Bleibe in diesem halbverfallenen Häuschen... Wie schnell sind die Jahre vergangen. Jahre voller Niederlagen. Ein zerstörtes, elendes Leben, das nun bald zu Ende sein wird... Wie schmerzt es ihn, dass die Frau bald nach der Scheidung gestorben war, ehe sie sich versöhnen konnten. – Die Tochter hat er nie mehr gesehen. Fremde haben sie großgezogen. Es gibt keine Verbindung zwischen ihnen...

So hat der alte Mann sein Leben an sich vorüberziehen lassen. Er seufzt tief. In der Ferne hört man die Weihnachtsglocken läuten. Andächtig lauscht der Kranke ihrem Klang.

Nun werden Erinnerungen aus der Kindheit in ihm wach: ein Weihnachtsabend, an dem er als Konfirmand unter dem brennenden Christbaum in der Kirche stand und laut die Worte aufsagen durfte: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging...“ Mühsam formen die Lippen des Alten die Weihnachtsgeschichte. „Euch ist heute der Heiland geboren…“ Hier hält er inne. „Oh, wäre er doch auch für mich geboren!“ Der müde Mann faltet die Hände und spricht langsam und stockend: „Herr, ich bin alt und schwach und trage an einer schweren Last. Ich bin schuldig geworden an meiner Frau, und sie hat mir nicht vergeben. Ich bitte dich, lass mich erkennen, dass dein Sohn auch für mich geboren ist. Vergib mir, damit ich in Frieden einschlafen kann…“

Der Alte liegt da, noch immer mit gefalteten Händen. Die Christfeier in der Kirche wird bald vorüber sein.

Es klopft jemand an die Tür. Ein etwa zwölfjähriges Mädchen tritt ein. „Guten Abend, Großvater!“ sagt sie. „Unsere Kirchengemeinde wünscht Euch gesegnete Feiertage und schickt Euch dieses Päckchen.“ Sie legt es auf das Bett des Schwerkranken.

Ein Leuchten geht über sein Gesicht. Dann überlegt er: Dieses Kind hat er noch nie gesehen, und doch kommt es ihm irgendwie bekannt vor. „Großvater“ hat sie zu ihm gesagt? Es durchgeht ihn: „Sie könnte mein Enkelkind sein!“ Er fragt nach ihrem Namen und erfährt, dass die Familie erst vor kurzem in diese Gemeinde zugezogen ist. „Sie ist wirklich mein eigenes Enkelkind und weiß es nicht!“

„Ihr seid so allein“, sagt sie. „Könnt Ihr denn Weihnachten feiern, ohne Kerzen, ohne Christbaum, ohne Geschenke?“

„Mein Kind“, sagt er leise, „schau, ich habe etwas, das ist mehr als Kerzen und Christbaum. In Gedanken war ich zuvor auch in der Kirche, und ich konnte wieder beten. Gott hat mich gehört. Du bist zu mir gekommen und hast mir dazu noch dieses Päckchen gebracht.“

„Wartet, ich will schnell nach Hause laufen und Euch eine Kerze und ein Zweiglein bringen.“ Ehe er noch etwas erwidern kann, ist das Mädchen schon draußen.

„Sie wird noch einmal umkehren“, flüstert er. „Wird auch ihre Mutter zu mir kommen, wenn sie erfährt, wer ich bin? Eines weiß ich nun bestimmt: ER hat mir vergeben. Mehr bedarf ich nicht.“ Aus dem Antlitz des Sterbenskranken strahlt Weihnachtsfreude. Er faltet seine Hände: „Herr, du hast mein Beten erhört. Du hast mein Enkeltöchterchen zu mir kommen lassen. Ich habe erkannt und darf nun gewiss sein, dass du mir vergeben hast. Der Heiland ist auch für mich geboren, es ist auch für mich Christtag geworden. Nun kann ich in Frieden die Augen schließen. Ich danke dir für deine große Gabe...“

Berthold W. Köber

(Beilage „Kirche und Heimat“, Siebenbürgische Zeitung, Folge 20 vom 18. Dezember 2023, Seite 15)

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