Vor der Wahl in Österreich: Kann Nehammer doch Kanzler bleiben?

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analyse

Stand: 28.09.2024 12:11 Uhr

Wahlen Österreich - Figure 1
Foto tagesschau.de

Kurz vor der Wahl in Österreich liegt laut Umfragen die rechte FPÖ nur noch wenige Prozentpunkte vor der konservativen ÖVP. So knapp war es nicht immer. Schafft Nehammer es also vielleicht doch, Kanzler zu bleiben?

Am Sonntag wird in Österreich der Nationalrat gewählt. Hat der ÖVP-Vorsitzende und Spitzenkandidat Karl Nehammer da noch eine Chance, Bundeskanzler zu bleiben? Oder bleibt es bei dem, was die Umfragen seit Monaten als Antwort auf die Sonntagsfrage geben: Nehammers konservative ÖVP auf Platz zwei, hinter der rechtspopulistischen FPÖ und ihrem Vorsitzenden Herbert Kickl. Dieser würde gerne "Volkskanzler" werden, wie er seit Monaten durch die Bierzelte tönt.

Nehammer, der Verlegenheitskandidat, war ursprünglich die dritte Wahl der ÖVP - nach dem tiefen Sturz der einst umjubelten Lichtgestalt Sebastian Kurz und nach dem sehr kurzen Zwischenspiel des Chefdiplomaten Alexander Schallenberg im Kanzleramt, der schnell wieder in seinen Lieblingsjob zurückflüchtete: Außenminister.

Von Anfang an machte niemand Nehammer die Spitzenposition streitig, kein ÖVP-Landeshauptmann und keine ÖVP-Landesfürstin wollte tauschen. Inzwischen hoffen sie, dass die Notlösung Nehammer vielleicht doch die richtige Wahl war - denn im Endspurt scheint die ÖVP nun doch etwas besser dazustehen.

FPÖ lange deutlich vor der ÖVP

Gleich zu Beginn des Wahljahres 2024 stellte Nehammer klar: Es kann nur einen geben. "Es wird die Entscheidung sein zwischen ihm und mir", sagte er. Alle in der mit ÖVP-Anhängern gut gefüllten Messehalle im oberösterreichischen Wels, einer FPÖ-Hochburg, wussten: Gemeint war Kickl. Das Duell des schrillen Populisten gegen den etwas steifen, konservativen ÖVP-Mann war eröffnet. Monatelang arbeitete sich Nehammer an "ihm" ab.

Nehammer steht auf den ÖVP-Wahlplakaten für eine "starke Mitte". Doch die Partei schwächelt seit dem Absturz der Regierung Kurz massiv. Seit Monaten stagniert sie bei der Sonntagsfrage um die 25 Prozent.

Bei der letzten Nationalratswahl gab es noch 37,5 Prozent der Stimmen für die ÖVP - und nur 16,2 Prozent für die FPÖ. Dieses Verhältnis wandte sich dann komplett. In der Sonntagsfrage stand die FPÖ im Wahljahr 2024 lange stabil bei um die 30 Prozent, hatte somit fünf deutliche Prozentpunkte mehr als die ÖVP. Damit wären die Rechtspopulisten zum ersten Mal klarer Wahlsieger gewesen - wenn an diesen vielen Sonntagen des laufenden Jahres schon gewählt worden wäre.

Nehammer und der "Österreichplan"

Aber Nehammer ist angetreten, um das zu verhindern. Er hat einen Plan: seinen "Österreichplan" mit 81 Seiten klassisch konservativer Politik. Es geht um Steuersenkungen, Finanzhilfen fürs erste Eigenheim, bezahlte freie Zeit für Großeltern, die sich um die Enkel kümmern.

Doch selbst in seiner eigenen Partei gab es Forderungen nach einer härteren Gangart. Nehammer ging darauf ein und verschärfte seine Politik: weniger illegale Migration, mehr Grenzschutz, ein schärferer Kurs bei Sozialleistungen für Zugewanderte, mehr österreichische Leitkultur. Dafür bekommt Nehammer viel ÖVP-Applaus.

Vieles steht so ähnlich auch im FPÖ-Programm. Aber da zuckt der Kanzler nur mit den Schultern: "Es wird schon in sozialen Medien und anderswo diskutiert, ob das nicht die 'Freiheitlichen' (FPÖ) irgendwo erfunden hätten. Ich habe damit kein Problem", sagte er schon bei der Vorstellung seines "Österreichplans".

Im Laufe des Jahres legte er nach. Mittlerweile sieht der ÖVP-Kanzler Handlungsbedarf vor allem beim Thema Migration. Damit will Nehammer verhindern, dass noch mehr Wähler von der ÖVP zur FPÖ abwandern.

Bloß nicht die FPÖ als ganzes verteufeln

Eine Brandmauer wie in Deutschland gegen die AfD ziehen die Konservativen in Österreich aber nicht hoch. Höchstens eine Feuerschutztür vor dem Kanzlerbüro - gegen den Möchtegern-Volkskanzler Kickl.

Nehammer bleibt das ganze Jahr standhaft dabei: Mit dem nicht. Das habe er schon mehrfach ausgeschlossen, wiederholt Nehammer immer wieder. Kickl sei einfach ein Politiker ohne Verantwortungsgefühl, der inzwischen selbst an seine Verschwörungstheorien glaube.

Auf Kickls Partei möchte Nehammer das aber nicht so ohne weiteres übertragen: "Die FPÖ ist eine sehr heterogene Partei. Gott sei Dank. Es gibt sehr viele Vernünftige in der FPÖ", sagt der ÖVP-Mann.

Imagegewinn durch Hochwasser-Katastrophe?

Damit hält sich Nehammer für den Tag nach der Wahl fast alle Möglichkeiten offen. In drei Bundesländern regiert die ÖVP eh schon mit der FPÖ. Eine Wiederauflage einer schwarz-blauen ÖVP-FPÖ-Koalition auszuschließen, wäre unglaubwürdig. Außerdem gibt es genügend Schnittmengen: in der Migrationspolitik zunehmend, in der Wirtschaftspolitik sowieso.

Aber was ist, wenn die FPÖ nicht nur in den Umfragen Nummer eins bleibt? Eine FPÖ-ÖVP-Koalition? Mit Kickl? Gilt dann für Nehammer immer noch "er oder ich"?

Kickl, der laute Populist, war kurz vor der Wahl plötzlich verstummt. Weil es tagelang geregnet hatte und weil statt des Klimakrisenleugners Kickl der Krisenkanzler Nehammer gefragt war. Weil es Nehammer war, der die Hochwasseropfer-Hilfen verteilen konnte.

Rennen wird knapp

Ob es genau dafür Pluspunkte in den Umfragen gab, ist umstritten. Aber: Der Vorsprung der FPÖ zur ÖVP hat sich verkleinert. Die ÖVP liegt in der Woche vor dem Wahltag mit 25 Prozent in den Umfragen zwar immer noch auf Platz zwei, aber nur mehr sehr knapp hinter der FPÖ, die nun auf 27 Prozent abgerutscht ist. Manche Umfragen sehen den Abstand sogar bei nur noch einem Prozent. Das läuft eigentlich unter "Fehlertoleranz".

Es könnte am Wahltag also ganz anders kommen, als monatelang vorausgesagt. Vielleicht hat es Karl Nehammer dann doch geschafft.

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