Der Nobelpreis für Medizin geht an Victor Ambros und Gary Ruvkun
Der Nobelpreis für Medizin geht an die Genforscher Victor Ambros und Gary Ruvkun für die Entdeckung der Micro-RNA
Eine Muskelzelle benötigt andere Proteine als eine Leberzelle. Deren Produktion wird von Hunderten von Micro-RNA gesteuert. Gibt es Unordnung im Netzwerk, führt das zu Krankheiten wie Krebs.
Nobel Prize Outreach
Victor Ambros und Gary Ruvkun werden mit dem Nobelpreis der Medizin ausgezeichnet. Die beiden amerikanischen Wissenschafter erhalten den Nobelpreis für die Entdeckung der Micro-RNA und deren Rolle bei der Regulierung der Proteinproduktion, wie die Preisverleihungsbehörde am Montag mitteilte.
Victor Ambros (geboren 1953) arbeitet an der University of Massachusetts Medical School, Gary Ruvkun (geboren 1952) an der Harvard Medical School sowie am Massachusetts General Hospital. Die beiden lernten sich in den achtziger Jahren als Postdoktoranden am Massachusetts Institute of Technology (MIT) kennen und bezeichnen sich nicht nur als Kollegen, sondern auch als Freunde.
Was Micro-RNA in der Zelle leistetDie beiden Forscher haben ein grundlegendes Prinzip zur Steuerung der Genaktivität entdeckt. «Ihre bahnbrechende Entdeckung hat ein völlig neues Prinzip der Regulierung offenbart, das sich als wesentlich für mehrzellige Organismen, einschliesslich des Menschen, erwies», schreibt das Nobelkomitee in seiner Begründung.
Alle Zellen des Körpers enthalten die gleiche DNA und damit denselben Vorrat an Bauanleitungen für Eiweissmoleküle. Und doch haben verschiedene Zelltypen, wie Muskel- und Leberzellen, sehr unterschiedliche Eigenschaften. Die eine muss sich auf Befehl zusammenziehen, die andere Giftmoleküle aus dem Blut entsorgen. Woher weiss nun jede Zelle, welche Anleitungen sie aus dem riesengrossen Vorrat der Erbanlagen verwenden soll?
Das funktioniert durch sehr komplexe Regulationsprozesse. Victor Ambros und Gary Ruvkun haben entdeckt, welche Rolle sehr kurze Stückchen RNA, die Micro-RNA genannt werden, dabei spielen.
RNA ist chemisch gesehen ein ähnliches Molekül wie DNA. Die Erbinformation wird in Form von DNA gespeichert. Sie enthält viele Gene, die als Bauanleitungen für Proteine fungieren. Damit aus einem Gen dann ein Protein wird, stellt die Zelle zunächst eine Kopie des Gens in Form von Boten-RNA her, auch Messenger-RNA oder kurz mRNA genannt.
Auf Grundlage dieser mRNA wird dann ein Protein hergestellt. Genau dort greifen die Micro-RNA in den Prozess ein. Sie binden an das Ende der mRNA und können dafür sorgen, dass diese abgebaut wird. Dadurch entsteht weniger von dem entsprechenden Protein. In menschlichen Zellen existieren mehr als tausend verschiedene Micro-RNA.
Hoffnung auf neue KrebstherapienDie Entdeckung der Micro-RNA und ihrer Aufgaben eröffnete zuerst der Grundlagenforschung völlig neue Einsichten in den Prozess der Produktion von Eiweissmolekülen. Plötzlich war klar, was alle diese kleinen RNA-Schnipsel in der Zelle wirklich tun und dass sie kein Müll sind. Damit gab es auch neue Möglichkeiten, von aussen einzugreifen. Indem man zum Beispiel eine gewisse Micro-RNA ausschaltet, kann man die Funktion eines spezifischen Proteins besser verstehen.
Die Welt der Micro-RNA barg noch andere Geheimnisse. Forscherinnen und Forscher entdeckten, dass Micro-RNA eine wichtige Rolle bei zahlreichen Erkrankungen, zum Beispiel bei Krebs, spielen. So schützen gewisse Micro-RNA-Moleküle die Tumorzellen vor dem körpereigenen Immunsystem.
Das geschieht mithilfe eines Tricks der Tumorzellen. Manchen von ihnen gelingt es, die Herstellung von zwei speziellen Micro-RNA anzukurbeln. Das wiederum führt dazu, dass die Immunzellen nicht mehr erkennen, dass sich hier Zellen mit schädlichen Veränderungen eingenistet haben. Sie lassen die Tumorzellen in Ruhe.
Solche Erkenntnisse der Grundlagenforschung könnten neue Therapien ermöglichen. In Mäusen hat das schon geklappt: Hemmten die Forscher die beiden speziellen Micro-RNA, wurden mehr Krebszellen vom Immunsystem vernichtet. Das Tumorwachstum verlangsamte sich.
Noch gibt es keine Therapie, die auf Micro-RNA basiert oder anderweitig in das Regulationsnetzwerk der Winzlinge eingreift – weder für Krebs noch für andere Erkrankungen. Aber es laufen diverse klinische Studien.
Micro-RNA können auch für neue Diagnosemethoden verwendet werden. Mittlerweile ist bekannt, dass viele dieser Moleküle ins Blut abgegeben werden. Und es hat sich gezeigt, dass zum Beispiel bei Darmkrebs ein anderes Muster von Micro-RNA im Blut vorhanden ist als bei gesunden Menschen. Manche Winzlinge sind viel häufiger, andere seltener vertreten. Derzeit wird nun daran getüftelt, ob solche veränderten Muster eine Früherkennung von Darmkrebs mit einem einfachen Bluttest ermöglichen.
«Er hat komplett verrückte Ideen»Mit Ruvkun und Ambros sind zwei schillernde Forscher zusammengekommen. Ruvkun befasst sich neben seiner Forschung zu Micro-RNA auch mit Themen wie Langlebigkeit und der Erforschung von Leben auf dem Mars. Ein ehemaliger Kollege, Oliver Horbert, sagte über ihn gegenüber dem Journal «Science»: «Er hat komplett verrückte Ideen.» Seine Studienjahre waren stark von der 68er Bewegung geprägt, er demonstrierte häufig und verbrachte nach dem Studium einige Zeit als herumreisender Hippie.
Ambros wuchs als eines von acht Kindern auf einem kleinen Hof im amerikanischen Gliedstaat Vermont auf. Dass sein Vater als junger Mann in Polen während des Zweiten Weltkriegs kaum Möglichkeiten für eine schulische Ausbildung gehabt habe und stattdessen in Deutschland als Zwangsarbeiter missbraucht worden sei, habe einen grossen Einfluss auf ihn gehabt, sagte Ambros gegenüber der Fachzeitschrift «Plos Genetics». Es habe dazu geführt, dass er sich seiner Möglichkeiten sehr bewusst gewesen sei, und habe ihn motiviert, hart zu arbeiten, um diese zu nutzen.
Für die Entdeckung der Micro-RNA spielte auch Ambros’ Frau Rosalind Lee eine entscheidende Rolle. Sie arbeitete ab 1987 im Labor von Ambros als wissenschaftliche Assistentin. Dort trieb sie das entscheidende Projekt voran, das zur ersten Entdeckung von Micro-RNA führte. Das Projekt hatte vorher jahrelang eine niedrige Priorität für Ambros. Denn wie es bei wissenschaftlichen Durchbrüchen häufig der Fall ist, war das Projekt riskant und mit vielen potenziellen Problemen behaftet. Da die Karriere von Ambros’ Frau Lee nicht vom Erfolg oder Misserfolg des Projekts abhängig war, war sie die perfekte Kandidatin, sich der obskuren Forschung anzunehmen.
Die Preisträger für Medizin werden von der Nobelversammlung des schwedischen Karolinska-Instituts ausgewählt und erhalten eine Preissumme von 11 Millionen schwedischen Kronen, umgerechnet 1,1 Millionen Dollar. Der Medizinpreis ist wie jedes Jahr der erste in der Reihe der Nobelpreise, der wohl prestigeträchtigsten Preise in den Bereichen Wissenschaft, Literatur und humanitäres Engagement. Die Preisträger der übrigen Gebiete werden in den kommenden Tagen bekanntgegeben.