Ukraine: Die USA liefern Streumunition – weshalb?

Die USA liefern der Ukraine Streumunition – was bedeutet das, und weshalb ist die Entscheidung Präsident Biden so schwer gefallen?

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Streumunition soll einen Nachteil im Kampf gegen Russland ausgleichen. Wegen der vielen Blindgänger ist diese Waffe jedoch umstritten. Die Entscheidung der USA spiegelt die Tatsache, dass die ukrainische Gegenoffensive nicht nach Wunsch verläuft.

Die ukrainischen Vorräte an herkömmlicher Artilleriemunition schwinden. Die Regierung in Kiew setzt ihre Hoffnungen deshalb in amerikanische Streumunition.

Libkos / AP

Im Weissen Haus ist eine wichtige rüstungspolitische Entscheidung gefallen. Präsident Joe Biden hat seine Haltung geändert und grünes Licht für die Lieferung von amerikanischer Streumunition an die Ukraine gegeben. Entsprechende Medienberichte bestätigte das Verteidigungsministerium am Freitag. Die Ukraine hatte seit langem eindringlich um solche Munition gebeten. Wegen Kontroversen um dieses Kriegsmaterial war sie von den USA immer wieder vertröstet worden.

Streumunition könnte sich für die ukrainischen Streitkräfte in der gegenwärtigen Lage als besonders nützlich erweisen, denn bei ihrer Gegenoffensive sehen sie sich mit zahlenmässig starken und in Schützengräben gut verschanzten russischen Einheiten konfrontiert. Es gibt verschiedene Typen von Streumunition, und diese kann sowohl von Artilleriegeschützen und Raketenwerfern wie auch von Flugzeugen aus eingesetzt werden. Das Grundprinzip ist jedoch bei allen Typen dasselbe – es kommt eine Granate oder Rakete zum Einsatz, die in ihrem Innern Dutzende von Sprengkörpern enthält, sogenannte Submunition oder Bomblets. Diese werden noch vor dem Aufprall der Streumunition freigesetzt und verteilen sich auf einer grossen Fläche.

Der militärische Effekt ist daher grösser als beim Einsatz von Granaten mit nur einem Sprengkörper. Dies gilt besonders bei einer Ansammlung gegnerischer Truppen auf einer grösseren Fläche und wenn das Ziel nicht genau genug ermittelt werden kann, um es mit Präzisionsmunition zu treffen. Doch der gleichzeitige, relativ ungezielte Einsatz zahlreicher Bomblets hat auch Nachteile: Je nach Typ ist der Anteil von Blindgängern hoch, und diese bleiben danach für Zivilisten womöglich auf Jahre hinaus eine Gefahr.

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Auch die angreifenden Truppen sind gefährdet und müssen beim erfolgreichen Vorrücken jeweils grössere Flächen entminen. Laut einem Bericht des Forschungsdienstes des amerikanischen Kongresses beziffern Minenräumexperten die Blindgänger-Rate auf 10 bis 30 Prozent. Das Pentagon verspricht hingegen, nur neuere Typen von Streumunition mit einer Fehlerrate von höchstens 2,35 Prozent zu liefern. Auf welcher Art von Tests diese Angaben beruhen, ist unbekannt.

Laut Colin Kahl, einem hohen Pentagon-Beamten, hat die Ukraine den USA schriftlich zugesichert, dass sie die Munition nicht in «ziviler Umgebung» einsetzen werde. Zudem werde sie darüber genau Buch führen, um spätere Entminungsoperationen zu erleichtern.

Konkret im Gespräch ist die Lieferung von Munition des Typs M864, die 72 Granaten in sich trägt. Abgefeuert wird sie mit 155-Millimeter-Artilleriegeschützen, von denen die Ukraine eine grosse Zahl aus Nato-Beständen erhalten hat.

Nicht Mitglied der Konvention gegen Streumunition

Wegen der Gefahr für Zivilisten haben 111 Staaten, eine knappe Mehrheit der Staatenwelt, die 2010 in Kraft getretene Konvention zum Verbot von Streumunition ratifiziert. Doch weder die USA noch die Ukraine oder Russland zählen zu den Vertragsstaaten. Auch für Nichtmitglieder gilt allerdings, dass sie beim Einsatz solcher Waffen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit einhalten müssen und keine hohen Opfer unter der Zivilbevölkerung in Kauf nehmen dürfen. Da Russland bei seinem Aggressionskrieg regelmässig Streumunition in besiedeltem ukrainischem Gebiet einsetzt, begeht es offensichtliche Kriegsverbrechen.

Der krasseste Fall war Russlands Angriff auf den Bahnhof der ostukrainischen Stadt Kramatorsk im April 2022, als Hunderte von Zivilisten auf ihre Flucht aus dem Konfliktgebiet warteten; laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kamen damals mindestens 58 Menschen ums Leben. Auch das ukrainische Militär hat vereinzelt Streumunition aus alten Sowjetbeständen eingesetzt. Human Rights Watch wirft Kiew vor, bei den monatelangen Kämpfen um die Stadt Isjum im vergangenen Jahr auf diese Weise den Tod von mindestens 8 Zivilisten verursacht zu haben.

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Nach einem russischen Angriff auf die ukrainische Stadt Charkiw im Juni 2022 ist ein leerer Behälter für Streumunition im Boden steckengeblieben; die einzelnen Sprengsätze dürften sich in der Umgebung verteilt haben.

Ivan Alvarado / Reuters

Die USA haben selber in allen grösseren Kriegen Streumunition eingesetzt, zuletzt im Irak und in Afghanistan. Aber die offizielle Politik geht dahin, nur noch Munition mit einer Blindgänger-Rate von höchstens einem Prozent zu verwenden. Dies entspricht auch einem Auftrag des Kongresses. Die Regierung Biden wird diese Vorgabe im Fall eines Transfers an die Ukraine unter Berufung auf eine Ausnahmeregelung missachten. Von republikanischer Seite hat sie kaum Kritik zu befürchten; im Gegenteil hatten einflussreiche republikanische Kongresspolitiker im März in einem Brief dem Präsidenten schwere Vorwürfe dafür gemacht, dass er die Lieferung von Streumunition an die Ukraine nicht längst bewilligt habe.

Reaktion auf die unerfreuliche Lage an der Front

Skepsis sieht sich Biden eher in seiner eigenen Partei gegenüber. Zudem löst seine Entscheidung keine Freude aus bei vielen Nato-Partnern in Europa, von denen die meisten die Konvention gegen Streumunition mittragen. Aber die Kehrtwende im Weissen Haus spiegelt die Erkenntnis, dass die Ukraine dringend weitere Hilfe benötigt.

Die Gegenoffensive im Süden des Landes hat die allzu hoch gesteckten Erwartungen bisher nicht erfüllt; die Ukrainer haben seit Anfang Juni nur bescheidene Gebietsgewinne erzielt, da sie auf gut ausgebaute russische Abwehrstellungen mit Minengürteln, Panzersperren und Schützengräben treffen. Als Voraussetzung für einen Durchbruch müssen sie zuerst mit Artillerie die gegnerischen Stellungen schwächen.

Die heikle Streumunitionsfrage hätte sich wahrscheinlich umschiffen lassen, wenn die Ukraine genügend mit herkömmlicher Artilleriemunition versorgt worden wäre. Aber die westlichen Bestände schwinden rasch, und besonders die Europäer haben es versäumt, rechtzeitig ein rüstungspolitisches Grossprogramm zur Ankurbelung der Produktion von Artilleriegranaten zu beschliessen. So ist der Druck auf das Anzapfen der Vorräte an Streumunition gewachsen.

Als Argument für deren Einsatz im Rahmen der laufenden Gegenoffensive lässt sich anführen, dass das Frontgebiet im Süden nur sehr dünn besiedelt ist. Weil es durch russische Minen völlig «verseucht» ist, muss es dereinst vor einer Rückkehr von Zivilisten ohnehin gründlich entmint werden. Zudem lässt sich der Einsatz von Streumunition durch Russland und die Ukraine nicht auf dieselbe Stufe stellen: Moskau tut dies im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges in einem fremden Land, während Kiew grosses Interesse daran hat, die Langzeitfolgen für die eigene Zivilbevölkerung zu begrenzen.

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