Olympia 2024 in Paris: Ukraine träumt von Medaille beim Turnen
„Meine Sprünge waren sehr schön heute und wir haben jetzt ein sehr gutes Team,“ sagt Ihor Radiwilow nach seinem Auftritt. Ein, zwei Sätze zu Drehungen, Landungen, Punkten, so viel zum Turnen. Ihor Radiwilow ist aus Mariupol, sein Heimatverein Spartak Donetsk. Die letzten Monate habe er sich mit seinem Trainer wieder in Cottbus vorbereitet, erzählt er, seine Frau komme wochenweise vorbei, kehre aber dann immer in die Ukraine zurück, im März wurde ihr erster Sohn geboren.
„Ja, der Familie zu Hause geht es auch gut, dem Baby auch. Danke der Nachfrage!“ Radiwilow qualifizierte sich für das Gerätefinale am Sprung. Das ukrainische Team beendete trotz zweier Stürze ihres besten Mehrkämpfers Illja Kowtun, der seine Vorbereitung in Kroatien absolvierte, die Qualifikation auf dem vierten Rang und steht im olympischen Mannschaftsfinale am Montag (17.30 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zu Olympia, in der ARD und bei Eurosport).
Die deutschen Turner hingegen landeten abgeschlagen auf dem elften und vorletzten Rang. An allen Geräten überzeugen konnte allein Nils Dunkel, der sich als einziger Turner für das Mehrkampffinale qualifizierte und als Zehnter das Pauschenpferdfinale knapp verpasste. Mit seinem ersten olympischen Einzelfinale sei er „superhappy“, gleichzeitig auch traurig darüber, dass es mit dem angestrebten Teamfinale „so deutlich nicht geklappt hat“.
Zu viele einfache Übungen in schlechter Ausführung
Zweiter Lichtblick war die Barrenübung von Lukas Dauser. Nach seinem vor fünf Wochen erlittenen Muskelbündelriss im Bizeps galt es ihm wie auch seinem Trainer Hubert Brylok als „ein großes Wunder“, das Barrenfinale erreicht zu haben. Wie schon bei der EM im April war das Pauschenpferd mit zwei Stürzen das schwächste Gerät. „Ich muss ehrlich sagen, das hat schon weh getan am Pferd,“ gab Cheftrainer Valeri Belenki zu und beteuerte – wie schon nach der EM – die Testdurchgänge im Vorfeld seien allesamt fehlerfrei gelaufen.
Zuerst hatte es Timo Eder erwischt. Der 19-Jährige, der bislang nur internationale Juniorenwettkämpfe bestritten hat, schlug sich tapfer, wirkte allerdings in der olympischen Arena doch etwas verloren. „Ja, das ist ein junger Turner, der war zu nervös, das erste Mal bei Olympia, der guckt rechts und links,“ so Belenki: „Ich habe ihm gesagt: Du musst dich einstellen, es wird laut, guck’ immer auf mich!“ Eder habe seinen Patzer gut weggesteckt, mit ihm sei er „auf jeden Fall zufrieden“.
Pascal Brendel, der in diesem Jahr zugunsten der Turnerei komplett auf die Schule verzichtet hatte, patzte ebenfalls am Pauschenpferd und außerdem beim Barrenabgang. Bei Andreas Toba klappte es an den Ringen nicht wie gewünscht, weil ein zentrales Element nicht anerkannt wurde. Insgesamt gab es beim deutschen Auftritt zu viele vergleichsweise einfache Übungen in schlechter Ausführung zu sehen. Die perfekte Landung zum Abschluss, die auch den letzten Eindruck beim Kampfgericht hinterlässt, war selten. „Jeder kocht mit Wasser,“ hatte Cheftrainer Belenki nach Auftritt seiner Schützlinge noch optimistisch formuliert.
Ukraine träumt von der Medaille
Dass es offenbar auch bei der Wasserqualität große Unterschiede gibt, wurde im Laufe des Tages deutlich. Es waren, wie üblich im Olympiajahr, allem voran die japanischen und chinesischen Turner, die mit Leichtigkeit und großer Eleganz allerhöchste Schwierigkeiten präsentierten. Der Mehrkampfbeste Zhang Boheng erturnte fast siebeneinhalb Punkte mehr als Nils Dunkel, Teamkollege Zou Jingyuan am Barren über einen Punkt mehr als Lukas Dauser. Die traditionell gewichtigste Entscheidung bei olympischen Turnwettbewerben – die Goldmedaille im Mannschaftsfinale – werden diese beiden asiatischen Abordnungen aller Wahrscheinlichkeit nach unter sich ausmachen.
Ein Team aus Russland, das in Tokio 2021 obsiegt hatte, ist in Paris nicht am Start. Aber auch die Teams aus Großbritannien, USA und Italien erturnten trotz eigener Fehler deutlich mehr Punkte als die deutsche Mannschaft. Sie alle werden um den Bronzerang wettstreiten – mit der Ukraine. Max Whitlock, zweimaliger Olympiasieger und erfolgreichster britischer Turner überhaupt, mag auf keinen Fall über eine Medaille spekulieren. „Ich gehe nie in einen Wettkampf und erwarte, eine Medaille zu gewinnen. Ich gehe in einen Wettkampf und möchte Potenzial, möchte Möglichkeiten haben,“ sagte Whitlock. Das britische Team rangiert seit Jahren konstant unter den besten fünf der Welt, doch in Europa wurde es zuletzt von Italien und in diesem Frühjahr von der Ukraine besiegt.
In Paris gaben die ukrainischen Turner, die seit Beginn der russischen Invasion in ihr Land teilweise durch die halbe Welt gereist sind, um überhaupt trainieren zu können, eine beeindruckende Vorstellung. Der in Kiew trainierende Oleh Wernjajew, Barren-Olympiasieger von 2016, ließ auf die Frage, ob er von einer Teammedaille für die Ukraine träumt, erst gar keinen Zweifel aufkommen: „Deshalb sind wir hier!“