Olympia 2024: Tom Daley hat es vom Wunderkind zur Ikone geschafft

Tom Daley ist die Ikone der homosexuellen Athleten. In Paris gelingt dem Wasserspringer abermals ein Comeback

Tom Daley - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Der Brite ist der bekannteste offen homosexuelle Olympionike der Gegenwart, seine Karriere reflektiert gesellschaftliche Schlüsselthemen. Daley selbst macht immer noch eine Volte – und gewinnt eine Silbermedaille.

Der Weg des Turmspringers Tom Daley war von Mobbing und Angststörungen geprägt.

Naomi Baker / Getty

Im vergangenen Jahr besuchte der zurückgetretene Turmspringer Tom Daley mit seiner Familie das Olympische Museum in Colorado Springs. «Am Ende des Rundgangs war da dieses Video darüber, was es bedeutet, ein Olympionike zu sein, und ich musste weinen», erinnerte sich Daley später. «Robbie sagte: ‹Papa, was ist los?› Lance sah mich an mit einem Blick, der bedeutete: O nein, ich weiss, was das heisst.»

Robbie ist Daleys älterer Sohn, Lance ist Daleys Mann, und erwartet hat er in diesem Moment das Comeback seines Gatten. Er sollte sich nicht täuschen. «Ich sagte, dass ich es vermisse, an den Olympischen Spielen zu springen», so Daley. Und Robbie sagte: «Papa, ich will dich dort springen sehen.»

Nun hat er den kompletten Medaillensatz

Und so steht der 30-jährige Brite am Montagvormittag also wieder zehn Meter über dem Wasser auf einem Turm, um seinen Olympiatitel im Synchronspringen zu verteidigen. Sein Partner hat gewechselt – statt Matty Lee ist es nun Noah Williams –, doch Daleys Anmut ist geblieben. Die Synchronisation der Sprünge ist faszinierend, von der Seite meint man bisweilen nur einen Athleten zu sehen. Das einzige Problem der Briten: Hao Yang und Junjie Lian aus China machen alles noch ein wenig perfekter.

In Tokio 2021 waren Daley und sein Partner die einzigen Nichtchinesen, die eine der acht Sprung-Goldmedaillen gewannen; 2024 im Centre Aquatique im Norden von Paris ist nichts zu machen. Mit rund 27 Punkten hinter China, aber über 41 Punkten vor den Dritten aus Kanada erringen Daley und Williams die Silbermedaille. «Ich bin unglaublich happy darüber», sagt Daley später.

Vor fünfzehn Monaten habe er noch tatenlos auf der Couch gesessen, erst im November mit seinem Partner zu trainieren begonnen. Dennoch seien sie schon so aufeinander abgestimmt, dass sie im Wettkampf nicht mehr sagen mussten als: «1, 2, 3 – go.» Die einzige Olympiamedaille, die ihm nach zuvor einmal Gold und dreimal Bronze noch fehlte, wird Daleys Legende weiter befördern.

Sichern sich am Montagmittag die Silbermedaille vom 10-Meter-Turm: die Synchronspringer Tom Daley (links) und Noah Williams.

Stefan Wermuth / AP

Hinter ihm liegt eine filmreife Karriere voller Höhen, Tiefen und Wendungen, die ihn vom Wunderkind zur Ikone machte – und dabei viele gesellschaftliche Schlüsselthemen der Zeit reflektierte. Bei Daley handelt es sich zweifellos um den bekanntesten offen homosexuellen Olympioniken der Gegenwart. Und er ist auch einer der selbst- und sendungsbewusstesten. Doch bis dahin war es ein weiter Weg, der unter anderem von Mobbing und Angststörungen geprägt war.

Mit 14 Jahren debütierte Daley dank einer Ausnahmegenehmigung an den Olympischen Spielen in Peking. Sein Charisma war schon damals so unübersehbar wie sein Talent. Doch in der Schule im südenglischen Plymouth wurde er gehänselt, verlacht für die engen Springer-Badehosen. Klassenkameraden schmissen Stifte nach ihm, warfen ihn zu Boden. Als sie ihm sogar androhten, die Beine zu brechen, wechselte er die Schule.

Im Becken avancierte er 2009 zum jüngsten Weltmeister der Geschichte, vor den Heimspielen 2012 in London wuchs der Hype um ihn ins Unermessliche. Dass kurz zuvor sein Vater und Mentor Rob an einem Hirntumor verstorben war, machte ihn für die Medien nur noch interessanter.

An den Wettkämpfen ging sein Martyrium dann allerdings weiter. Das Heimpublikum war so hysterisch, dass es seinen ersten Sprung im Einzel-Final mit einem Blitzlichtgewitter aus Handykameras begleitete – im Unwissen darüber, dass das beim Turmspringen aus Sicherheitsgründen verboten ist. Daley musste blinzeln, verlor während einer Schraube die Orientierung. Ihm passierte zwar nichts, er durfte den Versuch wiederholen und führte den Wettkampf lange an.

Doch im letzten Sprung fiel er noch auf den Bronze-Rang zurück – er glaubte, 18 000 Zuschauer enttäuscht zu haben. Dieser Wettkampf wuchs sich zu einem Trauma aus, das es ihm jahrelang unmöglich machte, Schrauben-Kombinationen zu springen. «Ich verlor die Motivation», sagte er. «Ich wollte ein normaler Teenager sein.»

Im Video sehen Sie Daleys Comingout im Jahr 2013.

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Doch in Tom Daleys Leben verlief wenig normal. 2013 verliebte er sich in einen 20 Jahre älteren Mann, den Regisseur, Drehbuchschreiber und Oscar-Preisträger («Milk») Dustin Lance Black. Die Beziehung gab ihm nicht nur die Kraft, seine Karriere wieder aufzunehmen, sondern auch den Mut zu einem denkwürdigen Comingout – per Videobotschaft auf einer Couch mit drapierten Union-Jack-Kissen.

Kollegen, Trainer und Freunde hatten ihm davon abgeraten, sie befürchteten noch mehr Medieninteresse und einen Verlust von Sponsoren. Doch Daley mochte sich daran erinnern, dass bei seiner ersten Olympiateilnahme 2008 die Turmspring-Goldmedaille an den Australier Matthew Mitcham gegangen war – obwohl oder gerade weil sich dieser vorher geoutet hatte. Und er mochte auch an sein grosses Idol denken, an Greg Louganis.

Der Amerikaner gilt als bester Wasserspringer der Geschichte. In Seoul 1988 knallte er in der Qualifikation mit dem Hinterkopf gegen das Dreimeterbrett. 35 Minuten später war er wieder im Pool und gewann souverän Gold. Doch als er 1995 eine HIV-Infektion öffentlich machte – die er ein halbes Jahr vor den Olympischen Spielen 1988 diagnostiziert bekommen hatte –, folgte eine der hysterischen Debatten der früheren Aids-Ära. Ärzte mussten beschwichtigen, dass Chlor das Virus abtöte und bei Daleys Unfall in Seoul keine Ansteckungsgefahr durch sein Blut im Wasser bestanden habe.

Greg Louganis verletzt sich an den Olympischen Spielen 1988 in Seoul – und gewinnt später die Goldmedaille.

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Louganis outete sich nach dem Karriereende als homosexuell, was zuvor ein offenes Geheimnis gewesen war – und als Grund galt, warum er trotz aller Brillanz erstaunlich wenige Sponsoren-Deals bekam.

Zu Daley hielten die Sponsoren hingegen auch nach dessen Outing. Seine Courage und seine Authentizität machten den Sportler erst recht zum Idol. Vor zwei Jahren erhielt Daley den Ritterorden OBE. Und mit seinem Sinn für Ästhetik und seinem Geschick für Inszenierung funktioniert er in den sozialen Netzwerken längst als sein eigenes Medium – ob er nun Filmchen von einem gemeinsamen Sprungausflug mit Louganis postet oder Kochrezepte oder Anleitungen zum Stricken und Häkeln teilt. Seinen neuesten Leidenschaften frönt er auch während der Olympischen Spiele auf der Tribüne, seine Produkte vertreibt er mit einem eigenen Label – zugunsten der Krebsforschung, im Andenken an den Vater.

Sein jüngerer Sohn hat noch einen Bon

Als ihm nach einem weiteren Scheitern in Rio 2016 vor drei Jahren in Tokio endlich der lange ersehnte Olympiasieg gelang, heulte Daley einerseits wie ein Kind. Und war andererseits längst so erwachsen, dass er seinen Triumph auf einer höheren Ebene einzuordnen verstand: «Ich bin unglaublich stolz, dass ich ein schwuler Mann und Olympiasieger bin», sagte er damals.

In Paris nun zeigte er sich ausgeglichener denn je, das Springen mache ihm so viel Spass wie noch nie, gerade weil «es nicht mehr das Wichtigste für mich ist. Das ist die Familie.»

Und weil Söhne nicht zuletzt als Komplizen dienen können, wollte Daley bei seinem Abgang aus Frankreich – im Einzel tritt er nicht an – nicht ausschliessen, 2028 in Los Angeles noch einmal anzutreten. Sein älterer Sohn habe den Joker vor Paris verbraucht, der jüngere, ein Jahr alt, habe «seinen Bon aber noch in der Hand», witzelte Daley. Da er mittlerweile in L. A. wohne, «wären es praktisch meine zweiten Heimspiele», sagte er. Auch diese Volte ist Daley noch zuzutrauen.

Tom Daley beim Hobbyspringen mit Greg Louganis, dem besten Wasserspringer der Geschichte.

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