Vom Spielplatz zum Tiny House der Zukunft: Wohnen auf engstem ...
Als Kind bastelte Richard Arnold im Schuppen seiner Familie Seifenkisten. Heute steht dort sein Bett, direkt neben seiner Sitzdusche. Was braucht es, um in Zug im Tiny House zu leben?
Bild: Matthias Jurt (Zug, 12.11.2024)
Als Aussteiger würde sich Richard Arnold nicht bezeichnen. Sein Tiny House steht nicht auf Rädern irgendwo am Waldrand, fernab der Zivilisation. Es steht mitten in der Altstadt von Zug. Ein Haus, das mitdenkt - und sogar spricht.
Arnold tippt kurz auf sein Handy – und alles setzt sich in Bewegung. Lautlos gleitet die Tür zur Seite – wie von Geisterhand. Die Panoramafenster, zuvor undurchsichtig wie Milchglas, werden klar und geben den Blick ins Innere frei. Heizung und Lüftung schalten sich automatisch ein. Schliesslich begrüsst ihn eine synthetische Frauenstimme: «Willkommen im Tiny House.»
Bild: Matthias Jurt (Zug, 12.11.2024)
Im Haus der Mikrolative wohnt Arnold probehalber auf zwei Stockwerken, verteilt auf 29,7 Quadratmetern. Es dürfte das kleinste Wohnhaus in Zug sein. Das zeigt sich auch an der Einrichtung: Direkt hinter der Eingangstür ist die kleine Küche in die Ecke gebaut. Dahinter befindet sich das WC. Eine klassische Dusche gibt es nicht. Stattdessen steht neben seinem Bett im zweiten Stock eine Sitzdusche aus Holz.
Der Keller ist eine Seltenheit bei den oft fahrbaren Minihäusern. Er beherbergt die Technikzentrale: Photovoltaikbatterie, Wassertank für Regen- und Leitungswasser und Wärmepumpe. Damit versorgt sich das Haus fast selbst. «Nur die Abwasserleitung ist nicht autark. Irgendwo muss das Wasser ja hin», erklärt Arnold.
Bild: Matthias Jurt (Zug, 12.11.2024)
Arnolds Bleibe zeigt: Tiny Houses sind längst kein Synonym mehr für Billighäuser, wie sie ursprünglich in den USA bekannt wurden. Nach der Finanzkrise 2008, als zahlreiche Menschen ihre Häuser verloren, wurden Wohnwagen und andere befahrbare Tiny Houses zur Notlösung.
Dagegen suchen hierzulande viele nach neuen Lebensformen und nutzen das Tiny House als Zweitwohnobjekt (wie Richard Arnold), oder als Büro. Und in Einzelfällen – wie unsere Zeitung berichtete – als mobile Kapelle sowie Coiffeursalon. Die Anschaffungskosten variieren. Wie viel Arnold ausgegeben hat, behält er für sich. Doch er sagt: «Die Erstschätzung hat sich verdoppelt und dann kam noch ein stattlicher Betrag obendrauf.» Das störe ihn nicht. «Ob das jetzt 100’000, eine Million oder noch mehr gewesen wäre, ist völlig egal.»
Bild: zvg
Den Wunsch, an diesem Ort ein kleines Haus zu bauen, hat Arnold schon seit Jahrzehnten. Damals war der Begriff «Tiny House» noch unbekannt. Viel wichtiger ist für ihn das Grundstück, auf dem es steht. Dieses ist seit über 50 Jahren in Familienbesitz. Seine Eltern bauten das ehemalige Waschhaus zu einem Schopf um.
Die Holzhütte war damals Richard Arnolds Lieblingsort, «wie der Schuppen von Michel aus Lönneberga», eine Kinderbuch-Romanfigur von Astrid Lindgren. In ihren Geschichten wurde Michel nach seinen Streichen zur Strafe in den auf dem Katthult-Hof gelegenen Schuppen geschickt. Dort nutzte er die Zeit, um kleine Holzmännchen zu schnitzen. Auch für Arnold und seinen Bruder war ihr Schopf ein Rückzugsort. Die beiden verbrachten hier viel Zeit, zimmerten Seifenkisten und Pfeilbogen. «Wir hatten im Schöpfli alles: Holz, leere Weinflaschen, Skier, Autoräder und eine Werkbank. Ein Paradies für zwei Buben mit viel Fantasie.»
Ein riesiger Kran für ein winziges HausDoch aus dem ehemaligen Schopf ein modernes Tiny House zu bauen, war alles andere als einfach. Vor zwei Jahren spannte Arnold den Zuger Architekten Markus Trinkler in sein Vorhaben ein. Rückblickend sagt dieser: «Die Planung war viel anspruchsvoller als bei einem normalen Haus. Die grosse Frage war, wie wir auf engstem Raum eine gut funktionierende Treppe einbauen.» Letztlich wurde sie auf 60 Zentimeter Breite reduziert und im hintersten Teil des Hauses platziert. Platz für Handläufe hat es nicht.
Nach einem Jahr voller Diskussionen mit Behörden, Denkmalschutz und Nachbarn begann der Bau. Arnold sagt: «Baulogistisch war das Tiny House ein Albtraum.» Das Haus liegt in einer Gasse mit kleinem Vorplatz, was den Materialtransport erschwerte. «Wir mussten einen riesigen Kran nutzen, um alles über die Häuser zu hieven.» Fast jeder Tag war nervenaufreibend, meistens legte Arnold bei den Bauarbeiten mit Hand an. «Zum Glück kann ich als Projektmensch mit Stress umgehen», sagt der Projektleiter eines Photovoltaik-Unternehmens.
Bild: zvg
Ende Oktober stand das Haus – und Arnold zog ein. Die Geräumigkeit überrasche ihn. «Ich möchte hier am liebsten gar nicht mehr raus. Ich schlafe besser, weil die Energie so gut ist.» Zudem bewegt sich Arnold viel in dem kleinen Haus, zum Beispiel wenn er die Panoramascheiben von oben bis unten putzt. «Ich fühle mich wie 16», sagt der 56-Jährige. Der Aufwand für den Haushalt hält sich allerdings in Grenzen. Arnold braucht weniger als eine halbe Stunde, um alle Böden zu wischen.
Der minimalistische Lebensstil Arnolds ist in diesem Haus von Vorteil. Vor neun Jahren begann er, seine Besitztümer einzuschränken und reduzierte immer weiter. Im Küchenregal befinden sich nur eine Kaffeemaschine und ein Basketball. Der Kleiderschrank ist halb leer. «Ein kleiner Koffer voller Kleider und etwas Hausrat – mehr brauche ich nicht.»
Bild: Matthias Jurt (Zug, 12.11.2024)
Bild: Matthias Jurt (Zug, 12.11.2024)
Derweil ist diese Wohnform mehr eine individuelle Lösung als ein sinnvolles Modell für die Stadtentwicklung. Das wird auch in einer Antwort des Regierungsrates auf eine Interpellation der GLP deutlich. Darin heisst es: «Da sie eingeschossig – in seltenen Fällen zweigeschossig – sind, stellen sie gegenüber einer mehrstöckigen Wohnüberbauung keine Alternative zur Verdichtung in Siedlungsgebieten dar.» Dem ist sich auch Arnold bewusst. «Wobei ein grösseres Wohnhaus auf diesem Grundstück wohl kaum Platz gehabt hätte», so der Minihausbesitzer.
Arnold vermisst im Tiny House fast nichts. Nur eines fehlt. «Noch kann ich niemanden zum Essen einladen», sagt Arnold. «Aber das wird sich ändern, sobald mein Esstisch da ist.» Mit einem zufriedenen Lächeln drückt er auf eine Schaltfläche, die Tür öffnet sich – und er verlässt das Haus. Mit einem «Auf Wiedersehen» verabschiedet ihn die Roboterstimme. Als die Tür von allein ins Schloss gleitet, ist Arnold schon um die Ecke verschwunden.