Nagelsmanns Rat zu mehr Faulheit zahlt sich aus
In Abwesenheit der verletzten Niclas Füllkrug und Deniz Undav schlüpft Tim Kleindienst in die Rolle des Torjägers. In seinem dritten Länderspiel belohnt sich der Gladbacher mit seinen ersten beiden Toren – auch dank einer gewissen Faulheit.
Sein Trikot wollte Tim Kleindienst am liebsten gar nicht mehr ausziehen. Nachdem der Stürmer im Anschluss an die 7:0-Gala gegen Bosnien-Herzegowina einen wahren Interview-Marathon bewältigt hatte, lehnte Kleindienst einen Trikottausch ab. Er wolle es als Andenken für seine ersten beiden Länderspieltore behalten, rief er auf dem Weg in die Kabine.
Noch vor dem Anpfiff war er etwas großzügiger - aus gutem Grund: Denn als ein Einlaufkind bei Temperaturen knapp über null Grad fror, lieh Kleindienst dem Mädchen kurzerhand seine Trainingsjacke. Doch sein Trikot wird Kleindienst nun nach seinem ersten Doppelpack für das DFB-Team in Ehren halten.
Bei seinem Länderspieldebüt vor einem Monat in Bosnien (2:1) verhinderte der VAR noch seine Torpremiere. „Jetzt die beiden Tore zu machen, ist wie ein Traum, der in Erfüllung geht“, schwärmte der 29-Jährige am Samstagabend.
„Das ist es, was Tim Kleindienst auszeichnet“
Zunächst lenkte er einen Distanzschuss von Robert Andrich zum zwischenzeitlichen 2:0 ins Netz, dann traf er nach einer Flanke von Antonio Rüdiger zum 7:0-Endstand. „Das ist es, was Tim Kleindienst auszeichnet“, lobte Rekordnationalspieler Lothar Matthäus bei RTL. „Die Flanke war hervorragend, genau da muss der Ball hin. Und von Kleindienst kennt man, dass er solche Laufwege hat und solche Bälle aufgrund seines Positionsspiels im Tor unterbringt.“
Dass ausgerechnet Kleindienst in der 79. Minute den Schlusspunkt setzte, war eine besondere Pointe. Schließlich hatte Bundestrainer Julian Nagelsmann im Vorfeld der Partie von seinem Stürmer eine ökonomischere Spielweise gefordert, um genau in solchen Momenten da zu sein.
„Er muss sich darauf konzentrieren, Tore zu schießen. Manchmal ist er ein bisschen zu fleißig. Wir wollen unsere Angriffe mit Erfolg abschließen“, hatte Nagelsmann vor dem Spiel gesagt. „Er muss einen Tick fauler sein, um in die Abschlusssituationen zu kommen.“
Nagelsmanns Forderung zahlt sich aus
Den Rat nahm sich Kleindienst offenbar zu Herzen. Und trotzdem hatte er laut Nagelsmann „drei, vier Top-Balleroberungen“.
„Wenn ich sage, er soll ein bisschen fauler sein, dann ist das in seinem Sinne, dass er für die guten Aktionen vor dem Tor noch die nötige Power hat“, erklärte der Bundestrainer. „Es bringt nichts, wenn du 70 Minuten viel anläufst, aber bei der entscheidenden Chance dann nicht mehr die Kraft hast, ein Tor zu machen. Am Ende ist er auch im Kader, weil er Tore machen muss. Das hat er heute gemacht.“
Wie wichtig es gerade für einen Angreifer ist, dass der Knoten platzt, weiß auch Pascal Groß. „Als Stürmer ist es noch mal ein anderer Druck, da will man das erste Länderspieltor natürlich machen“, sagte der Dortmunder auf SPORT1-Nachfrage. „Er ist einer, der sich alles erarbeitet. Deswegen hat er es sich absolut verdient.“
Kleindienst ist ein Spätberufener. Der in der Jugend von Energie Cottbus ausgebildete Angreifer bringt das Gardemaß von 1,94 Meter Körpergröße mit – und verfügt trotzdem über herausragende technische Fähigkeiten. Nach seinem Wechsel 2015 zum SC Freiburg blieb ihm auch aufgrund von Verletzungen der Durchbruch aber zunächst verwehrt.
Den schaffte er im zweiten Anlauf endgültig beim 1. FC Heidenheim - nach einem zwischenzeitlichen Abstecher zum belgischen Klub KAA Gent. Mit 25 Toren schoss Kleindienst die Heidenheimer 2022/23 zum Aufstieg in die Bundesliga und im vergangenen Jahr mit zwölf Toren in die Conference League. Bei Borussia Mönchengladbach ist er aktuell mit sechs Treffern Toptorjäger.
„Halleluja, ey“: Kleindienst staunt über rasanten Aufstieg
Die erstmalige Nominierung für die Nationalmannschaft vor einem Monat war der verdiente Lohn dieses rasanten Aufstiegs. „Es freut mich wahnsinnig, wie der Weg jetzt verlaufen ist, es ging sehr steil. Es ist etwas ganz, ganz Besonderes“, erklärte Kleindienst, der sich manchmal selbst noch kneifen muss: „Dann denkt man sich ‚Halleluja, ey, jetzt ist man an so einer Spitze, wo man immer hin wollte.‘ Das pusht einen einfach noch mal immens.“
Aktuell profitiert er in der Nationalmannschaft auch von den verletzungsbedingten Abwesenheiten von Niclas Füllkrug und Deniz Undav. Dank seiner demütigen und bescheidenen Art fügt sich Kleindienst bestens ein und nutzt die Gunst der Stunde.
„Aus meiner Sicht gilt es erstmal, überhaupt Leistung zu bringen, zu 100 Prozent ans Limit zu gehen, sich zu empfehlen für weitere Lehrgänge und weiter Gas zu geben auf dem Platz“, sagte Kleindienst, der sich selbst als Neuling weiter unterordnen will. „Man marschiert ja da nicht rein und auf einmal ist man der Große.“
Mit seinen ersten beiden Toren dürfte Kleindienst seine Chancen auf weitere Berufungen jedenfalls vergrößert haben.