Von Dialekt bis Demographie: So ticken Sachsen und Thüringen

Große Städte, kleine Städte

Sachsen ist mit vier Millionen Einwohnern das ostdeutsche Bundesland mit der größten Bevölkerung und das siebtgrößte aller Bundesländer. Das passt auch zum großem sächsischen Selbstbewusstsein. Thüringen hingegen liegt mit 2,1 Millionen Einwohnern nur auf Platz zwölf. Sachsen hat im Gegensatz zu Thüringen zwei große Großstädte: die vom höfischen Barock geprägte Landeshauptstadt Dresden mit knapp 570.000 Einwohnern und die alte Handelsstadt Leipzig, die mit 620.000 Einwohnern noch größer ist und ein linksliberales Flair verbreitet.

Thüringen - Figure 1
Foto FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Auch die alte Industriestadt Chemnitz ist mit knapp 250.000 Einwohnern noch relativ groß. Sie hieß zu DDR-Zeiten Karl-Marx-Stadt. Die SED ließ 1971 einen monumentalen Kopf des Übervaters des Sozialismus in der Stadt aufstellen, der im Volksmund als „Nischel“ bezeichnet wird, was auf Sächsisch für Kopf oder Schädel steht. Einst reichste Stadt Deutschlands, wird Chemnitz 2025 Europäische Kulturhauptstadt sein.

Thüringen fehlen solche großen Städte, was einen gewissen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Sachsen erzeugt, den echte Thüringer allerdings niemals zugeben würden. Warum auch? Thüringen hat schließlich die Hauptstadt Erfurt. Die mittelalterlich geprägte Innenstadt besticht durch ihre Schönheit, mit der Krämerbrücke als Touristenmagnet. Und in Erfurt wurde Luther zum Priester geweiht, auch wenn der bekannteste Sohn der Stadt heute der Popsänger Clueso sein dürfte. Gut 50 Kilometer entfernt befindet sich die Universitäts- und Wissenschaftsstadt Jena, die es mit 110.000 Einwohnern noch in die Liste der Großstädte schafft.

Auf dem Weg zwischen beiden Städten liegt Weimar, die bekannteste Stadt Thüringens, auch wenn sie nur 65.000 Einwohner hat. Als Wohnadresse von Goethe und Schiller ist sie der zentrale Ort der deutschen Klassik, zudem beliebter Ruhesitz für westdeutsche Rentner und häufiges Ziel für Touristen aus aller Welt. Ein früherer Wirtschaftsminister Thüringens, der Sozialdemokrat Matthias Machnig, hatte vor einem Jahrzehnt die Idee, dass Erfurt, Jena und Weimar als „Dreistadt“ zusammenwachsen sollten. Doch solchen Firlefanz lehnen die Thüringer ab. Sie lieben es kleinteilig. Und haben ihrem Land sogar 17 Landkreise verpasst, sieben mehr als Sachsen. Eine 2015 beschlossene Gebietsreform, die das ändern sollte, scheiterte schon nach zwei Jahren. (Markus Wehner)

Die einen sagen „Nu“, die anderen „No“

Eine große Gemeinsamkeit von Sachsen und Thüringen sind die Dialekte, denn die meisten von ihnen zählen zum Ostmitteldeutschen. Das ist eine Spielart des Mitteldeutschen, die vom Westmitteldeutschen zu unterscheiden ist, wozu etwa Hessisch oder das Kölner Ripuarische zählen, wie die Sprachwissenschaftlerin Agnes Jäger von der Universität Jena erklärt. Während man in Köln „Pääd“ sagt, wenn man ein „Pferd“ meint, wird daraus in den ostmitteldeutschen Dialekten „Ferd“ oder „Fard“. Hier habe sich der germanische Wortanlaut „P“ zu einem „F“ gewandelt, sagt Jäger.

Thüringen - Figure 2
Foto FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Bei den ostmitteldeutschen Dialekten lassen sich Thüringisch und Sächsisch unterscheiden, die sich wiederum in verschiedene Basisdialekte auffächern. Die Zählungen variieren. In Thüringen können Jäger zufolge zehn Basisdialekträume angesetzt werden, wobei manche davon nicht zum Ostmitteldeutschen zählen wie etwa Itzgründisch. In Sachsen werden um die fünf Sprachräume unterschieden, von denen das Vogtländische in der Forschung ebenfalls teils nicht als ostmitteldeutsch gilt. Eine herausragende sprachliche Besonderheit in Sachsen ist zudem die in der Lausitz verbreitete sorbische Sprache.

Landeshauptstadt: Erfurt besticht durch Schönheit, nicht durch Größe.dpa

Zwischen dem Thüringischen und dem Sächsischen gibt es feine Unterschiede, wie Jäger erläutert. Ein zustimmendes „Ja“ wird etwa durch das Thüringische „No“ und durch das Sächsische „Nu“ ausgedrückt. Statt „Leute“ sagt man im Kernthüringischen „Liite“, im Sächsischen „Leite“. Dialekte können aber auch Landesgrenzen überschreiten. Zwischen den beiden Kernzonen des Thüringischen in der Westhälfte Thüringens und des Sächsischen verortet Jäger ein Übergangsgebiet, das im Wesentlichen in der Osthälfte Thüringens liegt. Eine „Bratpfanne“ heißt im Basisdialekt in der Gegend von Erfurt und Gotha „Tiegel“ und im Übergangsgebiet und in Sachsen selbst vielerorts „Schaffen“. Aus dem Endstück vom Brot, im thüringischen Kerngebiet „Knüstchen“ oder „Knäustchen“, wird weiter östlich ein „Ränft“ oder „Ränftel“.

In beiden Bundesländern sprechen immer weniger Menschen Dialekt. Die Basisdialekte beherrschen laut Jäger nur wenige. Verbreitet sei indes ein sogenannter ostmitteldeutscher Regiolekt, also eine Umgangssprache, die in einer größeren Region ähnlich sei. In der Bevölkerung sei die Meinung verbreitet, dass man in Thüringen und Sachsen ganz anders spreche. Untersuchungen, bei denen Leuten aus der Region Aufnahmen von Sprechern aus beiden Bundesländern vorgespielt wurden, hätten aber gezeigt, dass nur 55 Prozent der Antworten korrekt waren, wenn zugeordnet werden musste, ob da ein Thüringer oder ein Sachse spricht. (Tobias Schrörs)

Thüringen schrumpft noch stärker

Thüringen und Sachsen schrumpfen beide, aber Thüringen ist noch deutlich stärker betroffen als Sachsen. Um elf Prozent wird die Bevölkerung in Thüringen Prognosen zufolge bis 2040 zurückgehen, in Sachsen sind es sechs Prozent. Dass Thüringen so viel stärker betroffen ist, liegt auch daran, dass das in Sachsen gelegene Leipzig stark wächst und Dresden zumindest leicht, während in Thüringen keine vergleichbar anziehende Stadt liegt. Immerhin in Erfurt und Jena soll die Bevölkerung bis 2040 minimal zunehmen.

Thüringen - Figure 3
Foto FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wieso geht die Bevölkerung so stark zurück? Anders als in den Jahrzehnten nach der Wende liegt das nicht mehr daran, dass Menschen wegziehen. Der sogenannte Wanderungssaldo, also das Verhältnis von Zuzügen und Wegzügen, ist in beiden Bundesländern positiv – was hauptsächlich an Einwanderung aus dem Ausland liegt, etwa aus der Ukraine. Negativ ist hingegen der sogenannte natürliche Saldo, also das Verhältnis von Geburten und Sterbefällen. In beiden Bundesländern sterben viel mehr alte Menschen, als Kinder geboren werden. Das liegt auch daran, dass die Abwanderung früher so groß war – wer Thüringen und Sachsen einst verließ, bekommt dort heute keine Kinder.

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Damit hängt ein weiteres demographisches Problem zusammen, das beide Länder betrifft: In Sachsen und Thüringen wird die Bevölkerung immer älter. Laut Prognose des „Wegweisers Kommune“ der Bertelsmann-Stiftung steigt das sogenannte Medianalter in Thüringen bis 2040 auf 52,4 Jahre und in Sachsen auf 50,3 Jahre. In der Bundesrepublik wird 2040 mit einem Medianalter von 47,1 Jahren gerechnet. Das Medianalter ist das Alter, das die Bevölkerung in eine ältere und eine jüngere Hälfte teilt.

Schrumpfung und Alterung stellen beide Bundesländer vor große Herausforderungen. Denn es gibt nicht genug Menschen im erwerbsfähigen Alter, um die Arbeitskräfte auszugleichen, die in Rente gehen. Schon heute fehlt es in der Pflege, im Handwerk und in der Gastronomie vielerorts an Beschäftigten. Deshalb werben Thüringen und Sachsen um Rückkehrer und Arbeitnehmer aus anderen Regionen Deutschlands, vor allem aber um Fachkräfte aus dem Ausland. Dass es ohne die nicht gehen wird, ist allen Parteien in beiden Ländern klar – bis auf die AfD. Sie setzt stattdessen auf Technisierung und eine höhere Geburtenrate. (Leonie Feuerbach)

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Thüringen - Figure 4
Foto FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Stolz wie August – und wie Goethe

Wenn es einen Namen gibt, bei dem die Augen vieler Sachsen noch heute zu leuchten beginnen, dann den: August der Starke, stolzer Kurfürst, Baumeister, Liebhaber unzähliger Mätressen, sächsischer Sonnenkönig des 18. Jahrhunderts und klügster Herrscher des Landes. Selbst wenn er fast alle Kriege verloren hat – und außer Kurt Biedenkopf natürlich. Gerade in Dresden hat August überall Spuren hinterlassen. Zwinger, Semperoper, Frauenkirche: August verwandelte die Stadt in ein barockes Statement voller Prunk und höfischer Pracht.

Doch August hat nicht nur das Dresdner Stadtbild geprägt, sondern bis heute auch das Selbstverständnis im Freistaat. Vor allem die Dresdner sind stolz auf ihre höfische Traditionen, auf das Stolze und mitunter auch Großspurige, das einen am Neustädter Elbufer überkommen kann, wenn man auf die prachtvolle barocke Stadtsilhouette blickt. Im Vergleich zu Thüringen ist in Sachsen vieles ein bisschen größer: die Hauptstadt, der Fluss durch die Hauptstadt, das Gebirge (Elbsandstein!), das Selbstbewusstsein. Na gut, sagen sie in Erfurt, wenn sie in Dresden mal wieder auf den Goldenen Reiter und den Zwinger zeigen: Dafür haben wir Weimar. Und Goethe!

In Thüringen sind sie nämlich nicht minder stolz auf ihre Geschichte, auch wenn der Stolz dort weniger prunkvoll ist. Als es Goethe 1775 ins Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach verschlug, in die kleine Residenzstadt Weimar, hatte die gerade mal 6000 Einwohner – in Dresden wohnten da schon mehr als 40.000 Menschen. Doch Thüringen wurde eben nicht von barockem Pomp geprägt, sondern über Jahrhunderte von der Kleinstaaterei konkurrierender Fürstentümer – wenn man zwischen denen hin- und herreisen wollte, musste man mitunter Geld wechseln und andere Maßeinheiten lernen.

Umso stolzer dürften die Thüringer darauf sein, dass Goethe im beschaulichen Weimar auf seinen Förderer Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach traf, der für die Weimarer Klassik so prägend war. Und nicht im glänzenden Dresden mit seiner güldenen Selbstgewissheit. Dieses Gefühl haben viele Thüringer, bis heute: Wir haben keinen Grund, uns zu verstecken. Auch ohne Goldenen Reiter. Und auch wenn manche uns unterschätzen. (Oliver Georgi)

Im Jahr 1991: Das Standbild Goethes und Schillers vor dem Weimarer Nationaltheater wird restauriert.Wolfgang Eilmes

Länder der Reformation

Thüringen - Figure 5
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Die beiden Länder Thüringen und Sachsen zählen neben dem nördlich gelegenen Sachsen-Anhalt zu den bedeutsamsten Wiegen der Reformation. Im zurückliegenden Landtagswahlkampf hat sich ausgerechnet Sahra Wagenknecht auf dieses Erbe bezogen. In einer Wahlkampfrede unterhalb der Wartburg in Eisenach, auf der Luther das Neue Testament ins Deutsche übertrug, sagte die BSW-Gründerin, durch die Reformation habe sich „ganz, ganz viel im Land verändert“. Gegenwärtig brauche man aber „keine religiöse Reformation“, sondern eine „Reform der Politik“. Die Äußerungen der konfessionslosen Politikerin sind aufschlussreich, weil sich in ihnen gängige Deutungsmuster der Reformation widerspiegeln. Der religiöse Aspekt, also das Kernanliegen von Luther und seinen Mitstreitern, gilt als mehr oder minder obsolet.

Stattdessen geht es um die Änderung der politischen Verhältnisse, und zwar dergestalt, dass der einfache Bürger nicht länger von der Obrigkeit gegängelt werden soll. Damit wird eine Reformationsdeutung des 19. Jahrhunderts wieder aufgerufen, die Luther zu einem deutschen Helden der politischen Freiheit stilisierte. Und parallel dazu die Reformationsdeutung der DDR, die besonders auf die Reformation der einfachen Leute blickte und in Thomas Müntzer und den aufständischen Bauern Vorläufer der kommunistischen Revolution erkennen wollte. In Thüringen wird im kommenden Frühjahr der blutigen Niederschlagung dieses Bauernaufstandes in der Schlacht bei Frankenhausen vor 500 Jahren gedacht.

Prachtvolle barocke Stadtsilhouette: Dresden zur blauen Stundedpa

Auf die soziale Komponente des Christlichen hob im Wahlkampf auch ein Plakat von Bodo Ramelow ab, das ihn als „Christ, Sozialist, Ministerpräsident“ vorstellte. In der Linkspartei ist Ramelow mit seiner Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche eine Ausnahme. In den ostdeutschen Landesverbänden von SPD und Grünen waren Kirchenmitglieder hingegen gerade in den Spitzenämtern lange stark überrepräsentiert. Das hängt mit der bürgerrechtlichen Prägung beider Parteien zusammen.

In der Gesamtbevölkerung ist von den Kirchen im Stammland der Reformation hingegen nur wenig übrig geblieben: In Thüringen lag der Anteil der Protestanten Ende 2022 bei 18,7 Prozent, hinzu kamen 7,2 Prozent Katholiken. In Sachsen waren es noch weniger: 16,1 Prozent Protestanten und 2,8 Prozent Katholiken. (Reinhard Bingener)

Thüringen - Figure 6
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Länder der Reformation: Gemälde „Martin Luthers Thesenanschlag“ an der Schloßkirche zu Wittenbergepd

Klöße, Bratwurst – aber auch Wein

Essen wird in Sachsen und Thüringen großgeschrieben. Hier wird eine schwere, fleisch­betonte Küche bevorzugt. Thüringen hat dabei die Nase vorn. Weltberühmt sind die Thüringer Klöße, die aus rohen und gekochten Kartoffeln gemacht werden. Sie werden mit viel Soße zu Rouladen, Sauerbraten, Wildgerichten oder auch Haxen gegessen, meist zusammen mit Rotkohl oder Sauerkraut. Die Kloßtradition reicht auch bis weit nach Sachsen hinein.

Das Lieblingsgericht der Thüringer ist allerdings die Rostbratwurst, die bei keinem sommerlichen Grillfest fehlen darf und auch sonst überall angeboten wird. Die Wurst, gern auch als Roster bezeichnet, wird angeblich schon seit 1404 in Thüringen gegessen, was eine Abschrift aus einem Kloster in Arnstadt beweisen soll. Sie besteht aus Schweinefleisch, mitunter auch mit Rindfleisch gemischt, hinzu kommen Salz, Pfeffer, Majoran, Kümmel und Knoblauch.

Echte Thüringer essen sie mit Senf (nie mit Ketchup), der gern auch aus dem sächsischen Bautzen kommen darf. Neben der Bratwurst ist auch Gehacktes im Brötchen beliebt, also rohes Schweinefleisch mit Zwiebeln und Gewürzen angereichert, gern auch mit Scheiben saurer Gurke angerichtet. Ob man dazu nun Gehacktes oder Mett sagt, hat selbst im TV-Duell zwischen dem CDU-Kandidaten Mario Voigt und dem AfD-Politiker Björn Höcke eine Rolle gespielt. Auch die Bezeichnung Hackepeter ist verbreitet.

Weltberühmt: der Thüringer KloßPicture Alliance

Für Liebhaber von Süßem wird in Thüringen wie in Sachsen die Tradition der Blechkuchen hochgehalten. Er ist in örtlichen Bäckereien als Butter-, Schmand-, Obst- oder Streuselkuchen meist in einer Qualität vorhanden, die in Westdeutschland eher schwer zu finden ist. Sachsen hat dazu noch eine Tradition des Weihnachtsstollens, der als Dresdner Christstollen weltberühmt geworden ist.

In Sachsen liegt zudem das östlichste der 13 deutschen Weinbaugebiete, und zwar im Ballungsraum Dresden mit dem Zentrum Meißen. Neben dem Sächsischen Staatsweingut Schloss Wackerbarth in Radebeul gibt es 30 private Weingüter in Sachsen, darunter das älteste, Schloss Proschwitz bei Meißen. Auch in Thüringen wird Wein angebaut, vor allem in der Gegend von Bad Sulza und Weimar. Sie gehören zum Anbaugebiet Saale-Unstrut, dem größten der fünf kleinsten Weinbaugebiete Deutschlands. (Markus Wehner)

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Im März in Erfurt: Ein Mann mit einer Bratwurst-Mütze steht bei der Eröffnung des Festivals Rostkultur auf dem Domplatz.dpa

Grüne Heimat hier wie dort

Wo immer man den geographischen Mittelpunkt des heutigen Freistaats Sachsen vermuten könnte, so dürfte es angesichts der Landesfarben Grün und Weiß nicht erstaunen, dass er buchstäblich im Grünen liegt, nämlich im Tharandter Wald, etwa auf halber Strecke zwischen Dresden und Freiberg.

Anders der geographische Mittelpunkt jenes Landes, das für sich lange Zeit mit dem Motto geworben hatte, es sei das grüne Herz Deutschlands: Thüringens Mitte liegt in dem landschaftlich eher öden Erfurter Becken. Doch das macht die Rede vom grünen Herzen nicht falsch. Denn tatsächlich liegt der geographische Mittelpunkt Deutschlands am Rand des 7500 Quadratkilometer großen Nationalparks Hainich, in dessen ausgedehnten Buchenwäldern man sich noch heute verlieren kann.

Oder müsste man nicht besser sagen wieder? Bis zum Zusammenbruch der DDR waren große Teile militärisches Sperrgebiet. Ein Großteil des grünen Bandes, das sich von der Hessisch-Thüringischen Rhön im Westen über den Thüringer Wald und das Erzgebirge bis in die Sächsisch-Böhmische Schweiz und das an Polen und das vormalige Sudetenland grenzende Zittauer Bergland im Osten erstreckt, war hingegen fast immer Grenzland.

Dieses Schicksal hat es vor großflächigen Eingriffen in die Natur bewahrt, sieht man von den Folgen des jahrhundertealten Bergbaus ab, der im 19. Jahrhundert vor allem Sachsen zu einem Vorreiter der Industrialisierung machte und in der DDR durch den Uranabbau seine vorerst letzte Blüte erlebte. Doch auch dieser konnte der Faszination der Mittelgebirgslandschaften in der Mitte Deutschlands nichts anhaben.

Im August in Radebeul: Till Neumeister, Weinbauleiter des Sächsischen Staatsweinguts Schloss Wackerbarth, bei der Weinlese der Sorte Goldrieslingdpa

Was für Wintersportler und Wanderer der Thüringer Wald und das Erzgebirge sind, das verheißt für (Lebens-)Künstler und Kletterer seit Jahrhunderten die von der Elbe durchzogene Sächsische Schweiz mit ihren bizarren Sandsteinformationen und den Fernsichten über die Vulkanlandschaft Nordböhmens hinaus bis zum Riesengebirge: ein Naturerlebnis nicht durch Überwältigung, sondern durch Eintauchen. Das wissen auch die Sachsen und die Thüringer, die es sommers wie winters zu Hunderttausenden in ihre grüne Heimat zieht. Braun sind dort allenfalls die Nadelbäume – weil sie in Zeiten des Klimawandels am falschen Ort stehen. Doch der Waldumbau hat schon begonnen. (Daniel Deckers)

Thüringen - Figure 8
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Stolze Freistaaten

Sachsen und Thüringen nennen sich Freistaaten. In Deutschland bezeichnet sich sonst bloß Bayern ebenfalls als Freistaat. Aber was hat das eigentlich zu bedeuten? Die Bezeichnung deutet darauf hin, dass man sich von einer anderen Herrschaft befreit hat. Im Falle der drei Länder war das die Befreiung von der monarchischen Herrschaft. Freistaat steht also für Republik. In Sachsen dankte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs König Friedrich August III. ab. Mehr als hundert Jahre Königreich Sachsen gingen damit zu Ende.

Ein Arbeiter- und Soldatenrat rief am 10. November 1918 die „Republik Sachsen“ aus. Doch der deutsche Begriff „Freistaat“ setzte sich bald gegenüber der aus dem französischen kommenden Republik durch. Er wurde 1920 in die sächsische Verfassung übernommen. Die meisten Länder der Weimarer Republik wählten Freistaat als ihre amtliche Bezeichnung. Neben Preußen, Sachsen und Bayern nannten sich auch die thüringischen Kleinstaaten so (mit Ausnahme von Reuß), einige andere Länder nannten sich Volksstaat.

Mit dem Gesetz über die Gleichschaltung der Länder vom 31. März 1933 schafften die Nationalsozialisten die parlamentarische Demokratie und damit auch die Freistaaten ab. Die Regierung der DDR teilte Anfang der 1950er-Jahre das Territorium des Freistaats Sachsen in die Bezirke Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt auf. Thüringen wurde entsprechend in die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl aufgeteilt.

Erst mit der deutschen Einheit entstand 1990 wieder der Freistaat Sachsen. Thüringen wurde im Oktober 1990, elf Tage nach der Wiedervereinigung, als Land wieder offiziell gebildet. Der Thüringer Landtag gab sich im Oktober 1993 auf der Wartburg eine neue Verfassung, die ein Jahr später nach einem Volksentscheid in Kraft trat. Darin wurde ebenfalls die Bezeichnung Freistaat festgelegt.

Viele Politiker in Sachsen und Thüringen benutzen den Begriff Freistaat heute mit einem gewissen Stolz. Es schwingt dabei mit, dass man sich als selbstbewusst und eigenständig im Verhältnis zum Bund sieht. Allerdings haben die drei deutschen Freistaaten keine Sonderstellung und keine Sonderrechte im Vergleich zu den anderen Bundesländern. (Markus Wehner)

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