Abwehr? So geht das nicht!: DFB-Analyse mit Lienen: "Wozu habe ...

24 Jun 2024

Niclas Füllkrug ist der deutsche Fußball-Held. In der Nachspielzeit rettet der Joker mit einem feinen Kopfball der Nationalmannschaft gegen die Schweiz Gruppenplatz eins (1:1) und damit vermeintlich beste Position für das Achtelfinale. Trainer-Legende Ewald Lienen freut sich für den Stürmer, ist aber nicht zufrieden. Vor allem mit der Viererkette nicht. Fassungslos macht ihn auch, was Schiedsrichter Daniele Orsato in einer kniffligen Szene gegen Maximilian Beier entschied. Und was ist eigentlich mit Thomas Müller? Tja, gute Frage. Die ntv.de-EM-Analyse.

Thomas Müller - Figure 1
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Hallo Herr Lienen, wie geht's?

Ewald Lienen: Ich hatte vollgetankt und alles vorbereitet. Aber hier kommt leider keine Sau vorbei für den Autokorso.

Naja, nach dem Spiel ...? Wobei die Türken am Samstag auch wieder den Ring in Dortmund verstopft haben.

Gut, die machen ja sehr gerne Autokorso.

Kommen wir zum Spiel, das war heute nicht so richtig was, oder sehen Sie das anders?

Es ist das passiert, was ich ja leider Gottes immer wieder sage. Wir haben viele sehr gute Spieler auf dem Platz, aber wenn die Gegner stärker werden, die Räume enger und wir mehr Gegenwehr bekommen, dann wird diese Formation nicht erfolgreich sein. So einfach ist das.

Also wieder das Lieblingsthema Außenstürmer?

Ja, ich sehe bei uns nur einen schnellen Spieler auf dem Platz, der mal ein Dribbling gewinnen kann und sich dann die Räume schafft: Jamal Musiala. Florian Wirtz kann das natürlich auch, aber er macht das eher, um zu passen oder zu flanken, nicht für die Tiefe. Er ist dann Weltklasse, wenn er links und rechts Leute neben sich hat, denen er den Ball in die Tiefe spielen und dann selbst nachrücken kann. Ich wiederhole mich und wiederhole mich, aber es bleibt eben so, dass wir in dieser Formation gegen die großen Mannschaften keine Chance haben. Und das weder defensiv noch offensiv.

Ohja, da sprechen Sie was an. In den vergangenen Tagen wurde sehr viel über die Abwehrmonster Antonio Rüdiger und Jonathan Tah geschrieben. Aber monströs war das eher nicht heute ...

Nein, die beiden waren überhaupt nicht gut. Ich weiß nicht, was mit denen los war. Normalerweise sind das Top-Verteidiger. Heute haben sie fast nur Foul gespielt, haben geschoben, gedrängt, gezerrt, haben ihre Gegenspieler umgerannt oder haben sie umgehauen. Man hätte sicher nicht alles pfeifen müssen, aber sie haben wirklich viel Foul gespielt. Und dann kommt der Schlotterbeck (Anmerk. d. Red.: Nico) rein und setzt das fort. Ich habe keine Ahnung, wie die heute auf die Idee gekommen sind, dass das etwas mit Abwehrverhalten zu tun hat. Die sind beide sauschnell, klar der Breel Embolo auch, aber da muss ich mich nicht derartig dumm verhalten, dass mir das alles weggepfiffen wird.

Thomas Müller - Figure 2
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Müssen wir über den Schiedsrichter reden? War er ein Faktor?

Orsato war immer einer der besten Schiedsrichter, die wir hatten. Aber er hat mir schon im ersten Spiel nicht so gut gefallen. Er war auch heute nicht immer glücklich. Die einzige Situation, in der ich sage, das kann doch nicht sein, war diese Szene, als Silvan Widmer im Strafraum Maximilian Beier mit beiden Händen festhält und nach unten drückt. Auch wenn Patrick Ittrich (Anmerk. d. Red.: Schiedsrichterexperte bei MagentaTV), ich mag ihn wirklich, da sagt: "dafür gibt es heute nichts", dann verstehe ich das nicht. Wir erkennen Tore mittlerweile ab, wenn ein Spieler irgendwo aus Versehen miniaturweise den Ball mit der Hand berührt, ohne sich dabei einen Vorteil zu verschaffen. Da verschieben sich die Maßstäbe, das kann ich nicht akzeptieren. Ich erwarte in Zukunft, dass das anders verhandelt wird. Und wissen Sie, was mich noch nervt?

Nee, noch nicht, aber gleich!

Schweiz - Deutschland 1:1 (1:0)

Tore: 1:0 Ndoye (28.), 1:1 Füllkrug (90.+2)Schweiz: Sommer - Schär, Akanji, Rodriguez - Widmer, Freuler, Xhaka, Aebischer - Rieder (65. Vargas) - Ndoye (65. Amdouni), Embolo (65. Duah) - Trainer: YakinDeutschland: Neuer - Kimmich, Tah (61. Schlotterbeck), Rüdiger, Mittelstädt (61. Raum) - Andrich (65. Beier), Kroos - Musiala (76. Füllkrug), Gündoğan, Wirtz (76. Sané), - Havertz - Trainer: NagelsmannSchiedsricher: Daniele Orsato (Italien)Gelbe Karten: Ndoye, Xhaka, Widmer (2) - Tah (2)Zuschauer: 47.000 (ausverkauft) in Frankfurt

Es ist offenbar eine Art Hobby von Schiedsrichtern geworden, vor Freistößen oder Ecken in den Strafraum zu laufen und Leute zu ermahnen: Wenn du den oder den festhältst, dann pfeife ich. Das ist doch Quatsch. Ich habe auch noch nie einen Polizisten gesehen, der vor der Bank steht und die Menschen ermahnt: Wenn du die Bank überfällst, dann verhafte ich dich. Ich verstehe das wirklich nicht! Und meistens passiert dann ja auch nichts. Meistens pfeifen die Schiedsrichter gar nicht ab. Da weiß ich wirklich nicht, was der Quatsch soll!

Kommen wir zurück zum DFB-Team. Waren die Wechsel für Sie heute nachvollziehbar? Der flankenstarke David Raum kommt etwa 15 Minuten vor Niclas Füllkrug, der ja eigentlich der perfekte Abnehmer ist?

Thomas Müller - Figure 3
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Ich habe mich natürlich mit meiner Peer-Group auch ausgetauscht. Raum zu bringen, macht eigentlich nur Sinn, wenn Füllkrug auf dem Feld steht. Eigentlich kann Kai Havertz die Flanken auch gut annehmen und verwerten, aber er war heute nicht gut und seine Kopfbälle aus guten Situation auch nicht. Lücke macht das dann später überragend. Der ist eh ein einmaliger Typ, mit dem Kopf besser als mit dem Fuß. Der ist für uns so wichtig, wie Wout Weghorst für die Niederländer, der kann immer ein Tor machen. Und es freut mich wirklich besonders für ihn, weil er einfach ein sauberer, anständiger Typ ist. Es geht eben nicht immer nur um Weltklasse und die Allerbesten zu feiern. Es geht auch um Charakter. Und der Junge hat Charakter. Aber zurück zur Frage: Die Auswechselungen waren nicht das Problem.

Sondern?

Ich muss das nochmal ansprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Top-Teams mit dieser Formation ohne Außenstürmer und mit langsamen, individuell besonders starken Außenverteidigern auseinanderspielen kann. Der Raum kommt rein, schiebt an und macht klasse Flanken. Das habe ich von Maxi Mittelstädt heute nicht gesehen. Ich habe das von ganz vielen anderen Mannschaften gesehen, dass die Außenverteidiger den Ball nehmen und nach vorne rennen. Unsere Außenverteidiger haben diese Schnelligkeit und Dribbelstärke nicht, sie haben das Spiel heute derart langsam gemacht. Mittelstädt war heute übrigens zum ersten Mal, seit er beim DFB-Team dabei ist, ein Totalausfall. Und Kimmich macht das Spiel langsam und zieht nach innen. Für die Schweizer war das sehr gut zu verteidigen. Welche Schwierigkeiten soll ich da auch bekommen?

Gegen Topmannschaften, dabei bleibe ich, Herr Nordmann, brauche ich eine andere Mischung auf dem Feld. Auf Sicht ist das so keine Erfolg versprechende Aufstellung. Gucken Sie sich doch die Schweizer an. Die spielen mit Embolo, Dan Ndoye und Fabian Rieder, die sind alle extrem schnell. Und dann macht Murat Yakin in der zweiten Halbzeit etwas Unfaires!

Oh, was habe ich verpasst?

Er nimmt alle drei raus und bringt mit Kwadwo Duah, mit Ruben Vargas und mit Zeki Amdouni wieder drei schnelle Spieler. Wir dagegen nehmen Musiala runter und bringen nur Beier. Dass man auf so viele schnelle Spieler setzt, muss ja irgendeinen Sinn machen. Und zwar, dass ich diese Spieler nicht so einfach kontrollieren kann. Und das nicht nur im Konter. Und wenn der Vargas zum Beispiel noch lernt, nicht ständig ins Abseits zu laufen, dann hätten wir heute Abend eh verloren.

Thomas Müller - Figure 4
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Also war der Punkt nicht verdient?

Doch, der Punkt war verdient. Aber dieses Spiel bietet dir vor allem die Chance, daraus zu lernen, wie wir es in Zukunft machen wollen. Schauen wir uns doch die EM bisher an, die Spanier haben schnelle Außenspieler, die Niederländer und die Franzosen. Selbst die Engländer, auch wenn die bisher ja sehr unglücklich gespielt haben. Die haben links einen Mann, rechts einen Mann. Und einen Mittelstürmer. Wir haben solche Spieler auch. Keine Top-Mannschaft spielt so Fußball, wie wir. Aber es gibt noch etwas anderes, das ich nicht verstanden habe.

Sie haben die Bühne, Herr Lienen!

Wenn ich zurückliege und so einen Druck machen will, alles auf eine Karte setze, warum setze ich İlkay Gündoğan zwischenzeitlich auf die Doppelsechs neben Toni Kroos? İlkay hat in den vergangenen Spielen klar nachgewiesen, dass er seine Stärken weiter vorne hat und nicht auf der Position von Robert Andrich. Das hat dann dazu geführt, dass wir eine Zeit lang gar nicht mehr in Ballbesitz gekommen sind. Und mit İlkay auf der Position gewinnst du dann auch nicht unbedingt den Ball.

Für Robert Andrich kam Beier, damit wurde es offensiver.

Da kann ich lieber mal Havertz rausnehmen. Aber worum geht es dem Bundestrainer? Darum, dass er das Spiel unbedingt noch drehen will, oder um Spielpraxis für den Kader? In solch einem Moment frage ich mich, wofür wir einen Thomas Müller dabeihaben. Er ist seit Jahren ein Phänomen, gerade in solchen Situationen, da ist er immer am wertvollsten. Wenn ich ganz viel Platz habe, dann bringe ich Beier, der rennt allen weg. Er ist absolut ein Mann für die Zukunft des Teams. Ich hätte Thomas für die bessere Idee gehalten, der macht immer was. Mal einen Assist oder hält den Fuß einfach rein. Aber wissen Sie eigentlich, wer für mich der Hauptschuldige am Gegentor ist?

Musiala, Rüdiger oder Tah?

Nein, Wolff Fuß!

Oh, das kommt überraschend!

Ja, aber er hat eine Grundregel verletzt, er hat für schlechtes Karma gesorgt. Wenn ich möchte, dass ein Spieler ein Tor schießt, das darf natürlich nicht geplant sein, dann kritisiere ich ihn so lange, bis er trifft. In der 25. Minute erklärt er, dass Ndoye viel zu wenig Tore aus seiner Position macht. Sieben Torschüsse hatte er bei der EM, alles Fahrkarten. Er hat ihn richtig runtergemacht. Und dann trifft er, der Ndoye mit den Fahrkarten. Das ist von mir eine Ermahnung an Wolff Fuß! Das macht man nicht! Diesen Assist zum Tor gebe ich zu 100 Prozent ihm!

Hat er Ihre Nummer?

Mit Sicherheit! Dann kann er auch direkt mal nachfragen, wie er das beim nächsten Mal besser lösen kann. Man kann einfach sagen, der Ndoye, der hat nicht so viele Tore gemacht, aber der ist superschnell und kann immer gefährlich werden. Und schon bist du raus aus der Nummer!

Dann sind wir gespannt, ob er sich meldet. Vielen Dank!

Mit Ewald Lienen sprach Tobias Nordmann

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