Aktivisten: Syrien verliert Kontrolle über Aleppo
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Nach dem Vorrücken dschihadistischer Gruppierungen hat die syrische Regierung laut Aktivisten die Kontrolle über Aleppo verloren. Die russischen Luftstreitkräfte setzten unterdessen ihre Angriffe auf Dschihadistenrebellen im Nordwesten Syriens fort, der Iran sichert der syrischen Regierung seine Unterstützung zu. Machthaber Baschar al-Assad kündigte eine Gegenoffensive an.
Online seit heute, 12.23 Uhr (Update: 16.45 Uhr)
„Erstmals seit Beginn des Konflikts im Jahr 2011 ist die Stadt Aleppo nicht mehr unter der Kontrolle der syrischen Regimekräfte“, sagte der Chef der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, am Sonntag. Die Beobachtungsstelle mit guten Kontakten zu Zivilpersonen und anderen Quellen in Syrien hat ihren Sitz in London. Ihre Angaben sind für Medien schwer überprüfbar, gelten aber als plausibel.
In der Nacht auf Sonntagfrüh habe es russische Angriffe in den Provinzen Idlib und Hama sowie in Aleppo gegeben, teilte die Beobachtungsstelle weiter mit. Mindestens ein Zivilist soll dabei getötet worden sein, mehrere seien verletzt worden. Aleppo, die zweitgrößte syrische Stadt, war bis zu ihrer Rückeroberung durch die Regierungstruppen 2016 Schauplatz erbitterter Kämpfe.
Seit Mitte der Woche konnten Rebellen unter Führung der islamistischen Hajat Tahrir al-Scham (HTS), eines syrischen Ablegers des Terrornetzwerkes al-Kaida, größere Gebiete im Nordwesten Syriens zurückerobern. Am Samstag drangen Rebellen weit in die Millionenstadt Aleppo vor, einige Stadtteile werden bereits seit mehreren Jahren von kurdischen Kräften kontrolliert. Assad kündigte laut staatlichen Medien an, den „Terrorismus“ zu vernichten. Die syrische Armee konnte laut eigenen Angaben einige Städte wieder zurückerobern.
Russische Luftangriffe auf Ziele in AleppoErstmals seit 2016 flog Russland am Wochenende wieder Luftangriffe auf Ziele in Aleppo. Oleg Ignasjuk, stellvertretender Leiter der russischen Mission in Syrien, erklärte am Samstag, bei Attacken russischer Kampfjets seien rund 300 Kämpfer getötet worden. Es seien Befehlsstellen, Artilleriestellungen und Lager der Rebellen angegriffen worden.
Die Dschihadisten nahmen auch Orte in der Provinz Idlib einLaut Beobachtungsstelle wurden auch Orte in Idlib getroffen. Die Dschihadisten hätten „Dutzende“ strategisch bedeutende Orte in den Provinzen Idlib und Hama eingenommen, dort seien sie auf „keinerlei“ Widerstand gestoßen. Die syrische Armee soll unter anderem ihre Stellungen rund um die in der Mitte des Landes gelegene Provinzhauptstadt Hama verstärkt haben.
Unterdessen sollen von der Türkei unterstützte Rebellen laut einem Bericht der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu in Nordsyrien eine Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG gestartet haben. Die YPG ist Verbündeter der USA in Nordsyrien. Die Türkei stuft die Kurdenmiliz als Terrororganisation ein.
Iran sichert Unterstützung zuDie syrische Regierung kontrollierte zuletzt mit Hilfe ihrer Verbündeten Russland und Iran etwa zwei Drittel des Landes. Die Kämpfe im Nordwesten stellen seit Jahren des Stillstands eine neue Eskalation in dem seit 2011 dauernden Bürgerkrieg dar. Bei den heftigsten Gefechten seit 2020 wurden laut der Beobachtungsstelle bisher mehr als 370 Menschen getötet, darunter Dutzende Zivilisten und Zivilistinnen.
Der Iran sicherte unterdessen der Führung in Damaskus seine Unterstützung zu. Er reise nach Damaskus, um der syrischen Regierung und ihren Streitkräften die Botschaft der Unterstützung seines Landes zu „übermitteln“, zitierte die staatliche Nachrichtenagentur IRNA am Sonntag den iranischen Außenminister Abbas Araktschi vor dessen Abreise. Er sei sicher, dass die syrische Armee „diese terroristischen Gruppen“ erneut besiegen werde.
USA: Russland und Iran mitverantwortlichDie US-Regierung macht die Abhängigkeit der syrischen Staatsführung von Russland und dem Iran für die jüngsten Entwicklungen mitverantwortlich. Zudem habe Assad mit seiner Weigerung, sich auf einen politischen Prozess zur Befriedung einzulassen, die Bedingungen für diese Situation geschaffen, erklärte Sean Savett, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus. Die USA hätten mit der Offensive nichts zu tun, diese werde von der Terrororganisation HTS angeführt.
Die Zerstörungen sind erneut großDie USA drängten auf Deeskalation, Schutz der Zivilbevölkerung und Minderheiten sowie auf einen politischen Prozess, der den seit 2011 anhaltenden Bürgerkrieg im Einklang mit der Resolution 2254 des UNO-Sicherheitsrats ein für alle Mal beenden könne, so Savett weiter. Das oberste Gremium der Vereinten Nationen verabschiedet eine Reihe von Resolutionen zum Syrien-Krieg. Die Resolution 2254 vom 18. Dezember 2015 sieht unter anderem die Vermittlung von Friedensgesprächen der Regierung mit der Opposition vor.
Expertin: Geopolitische Lage ausgenutztDareen Khalifa, Expertin der International Crisis Group, erklärte, die Offensive sei von den Dschihadisten über Monate vorbereitet worden. Sie würden auch auf regionale und geostrategische Veränderungen reagieren. So starteten sie die Offensive an jenem Tag, an dem im Libanon eine Waffenruhe zwischen der israelischen Armee und der mit der syrischen Regierung und Teheran verbündeten Hisbollah-Miliz in Kraft trat, während Russlands Krieg gegen die Ukraine weitergeht.
Die Dschihadisten „denken, dass die Iraner jetzt geschwächt sind und das Regime in die Enge getrieben wird“, analysierte Khalifa. In den vergangenen Monaten hatte Israel mehrere Angriffe auf syrischem Gebiet geflogen, um mit Teheran und der syrischen Armee koordinierte Waffenlieferungen an die Hisbollah zu unterbinden.
Mangelndes Engagement für eine Friedenslösung führte aus Sicht des UNO-Sonderbeauftragten Geir Pedersen zum erneuten Aufflammen der Gewalt in Syrien: „Was wir heute in Syrien sehen, ist ein Zeichen des kollektiven Versagens.“ Er habe immer wieder vor dem Risiko einer Eskalation gewarnt und vor der Gefahr, bloß auf Konfliktmanagement statt auf Konfliktlösung zu setzen, sagte Pedersen. Er rief die syrischen Konfliktparteien und involvierte Staaten zu Verhandlungen auf.
Italien fürchtet neue MigrationskriseItaliens Außenminister Antonio Tajani warnte unterdessen vor einer neuen Migrationswelle in Richtung Europa. „Wir haben beschlossen, unsere Botschaft in Damaskus wieder zu öffnen und einen Botschafter zu entsenden, der jetzt in Abstimmung mit den Botschaftern der anderen EU-Länder arbeitet.“ Am Sonntag finde ein Treffen der EU-Botschafter in Damaskus statt. In der Zwischenzeit arbeite man daran, die humanitäre Krise zu bewältigen, so Tajani laut Medienangaben.
„Wir sind an Stabilität interessiert, gerade um eine Migrationskrise zu verhindern und die Spannungen so weit wie möglich abzubauen“, so der italienische Außenminister. Der gesamte Nahe Osten befinde sich in einer Phase großer Instabilität. In Syrien sei niemand in der Lage zu intervenieren oder mit den Kämpfern an Ort und Stelle zu sprechen, sagte Tajani.
Das deutsche Außenministerium rief alle Akteure in Syrien zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts auf. Die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur müssten geschützt werden, hieß es in Berlin. Man verfolge die sich rasch verändernde Lage im Nordwesten des Landes genau und unterstreiche die Notwendigkeit für eine politische Lösung im Einklang mit den einschlägigen UNO-Resolutionen.