Zurückweisungen an Grenzen: „Österreich wird keine Personen ...
„Schengen in Gefahr“, hat die konservative tschechische Tageszeitung „Hospodářské noviny“ getitelt, nachdem Anfang September in Deutschland die Debatte über Rückweisungen an den Grenzen in Fahrt gekommen war. „Einflussreiche deutsche Politiker wollen Kontrollen an allen Grenzen einführen.“ Die Forderungen des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz an die Ampelregierung in Berlin werden entsprechend aufmerksam in den Nachbarländern wahrgenommen.
Doch größere politische Wellen hat das bislang noch nicht geschlagen. Vor allem die gegenwärtigen Regierungen in Warschau und Prag heben sich von ihren Vorgängern dadurch ab, dass sie nicht an scharfen Auseinandersetzungen mit Deutschland interessiert sind. Dabei erfolgt der größte Teil der bisherigen Zurückweisungen nach dem geltenden EU-Recht an den Grenzen zu Polen, der Tschechischen Republik und der Schweiz.
„Da gibt es keinen Spielraum“
In Österreich zieht Innenminister Gerhard Karner hingegen vorsorglich eine klare Trennlinie und gibt an, dass Österreich keine zurückgewiesenen Personen übernehmen werde. Karner sagte am Montag in Wien auf Anfrage der F.A.Z.: „Österreich wird keine Personen entgegennehmen, die aus Deutschland zurückgewiesen werden. Da gibt es keinen Spielraum!“ Der Politiker der christdemokratischen ÖVP verwies auf das geltende EU-Recht. Er habe daher den Chef der österreichischen Bundespolizei angewiesen, „keine Übernahmen durchzuführen“. Personen, die einen Asylantrag stellen, dürften nicht formlos an der Grenze zurückgewiesen werden.
Sollten sich Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach den „Dublin“-Regeln ergeben, wäre ein formelles Konsultationsverfahren einzuleiten. Eine Überstellung könne erst nach Zustimmung des betroffenen Mitgliedsstaats erfolgen. Zurückweisungen im Rahmen von Binnengrenzkontrollen seien gemäß EU-Recht nicht erlaubt. „Ich habe den Bundespolizeidirektor deshalb angewiesen, keine Übernahmen durchzuführen“, äußerte Karner auf Anfrage der F.A.Z.
Die Regierung in Wien, vor allem die Kanzlerpartei ÖVP, hat ihre Gründe, in dieser Frage als unnachgiebig dazustehen. Am 29. September stehen Nationalratswahlen ins Haus. Und die Umfragen sehen seit geraumer Zeit die rechte FPÖ vorn, allerdings nicht unerreichbar weit vor der ÖVP. Migration und Sicherheit gehören zu den zentralen Themen. FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker hat die Forderung der CDU im Nachbarland als Bestätigung der eigenen Position aufgefasst. Der von Merz geforderte „faktische Abschiebestopp“ samt Zurückweisungen an der Grenze entspreche den Bausteinen, die die FPÖ für eine „Festung Österreich“ vorsehe. Die aus ÖVP und Grünen gebildete Regierung in Wien sei für eine Rekordzahl von 112.000 Asylanträgen im Jahr 2022 verantwortlich.
Deutlich weniger illegale Grenzübertritte aus Ungarn
Allerdings sind im laufenden Jahr die Zahlen deutlich zurückgegangen. Das gilt auch für die Zahl von Personen, die illegal aus Ungarn die Grenze zu Österreich übertreten haben. Im laufenden Jahr sind im Burgenland, das an Ungarn grenzt, bisher 1000 „Aufgriffe“ verzeichnet worden, gegenüber weit mehr als 10.000 in den vergangenen Jahren (die Dunkelziffer nicht entdeckter Migranten ist in diesen Zahlen naturgemäß nicht enthalten). Seit der Migrationswelle von 2015 kontrolliert nicht nur Deutschland unter Berufung auf eine angeblich stets nur temporäre Ausnahmesituation (jeweils alle sechs Monate verlängert) an den Grenzen zu Österreich, sondern auch Österreich an seiner ungarischen Grenze. Inzwischen kontrolliert Österreich, Deutschland folgend, auch an seinen Grenzen zur Tschechischen Republik sowie zur Slowakei.
Seit die Bundespolizei vor knapp einem Jahr begann, auch wieder an der Ostgrenze zu kontrollieren, gibt es regelmäßig Zurückweisungen von illegal eingereisten Flüchtlingen auch nach Polen, sofern diese nicht ausdrücklich um Asyl in Deutschland bitten. In der Regel läuft das zwischen beiden Ländern einvernehmlich. Für Aufsehen sorgte im Sommer, als die Brandenburger Polizei eine afghanische Familie, die bereits polnische Asylpapiere hatte, einfach wieder zurück über die Grenze fuhr und im Nachbarland absetzte.
Polen praktiziert einen restriktiven Grenzschutz
Der Fall erfuhr viel Aufmerksamkeit in polnischen Medien, wohl auch weil die rechtspopulistische Vorgängerregierung der PiS aus dem Fall umgehend einen Skandal gemacht hätte. Die neue liberal-konservative Regierung dagegen, die sich eine Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland zum Ziel gesetzt hat, verzichtete darauf. Polens Ministerpräsident Donald Tusk sprach lediglich von einem „inakzeptablen Vorfall“ und ließ die Sache zwischen den Ministerien beziehungsweise Grenzpolizeien klären.
Polen selbst ist nicht dafür bekannt, Flüchtlinge ohne Weiteres nach Deutschland durchreisen zu lassen, im Gegenteil. Das Land praktiziert an der EU-Außengrenze zu Belarus einen restriktiven Grenzschutz. Seit Russland und Belarus vor drei Jahren begannen, Flüchtlinge gezielt in Richtung EU-Grenze zu treiben, hat Polen Hunderte Kilometer Zaun errichtet und weist – ebenso wie Litauen, das mit dem gleichen Problem konfrontiert ist – Flüchtlinge zurück.
Diese sogenannten Pushbacks haben sich mit dem Regierungswechsel zu Donald Tusk nicht geändert, im Gegenteil: Der Regierungschef macht immer wieder deutlich, dass sich Polen von Putins hybrider Kriegsführung zur Destabilisierung der Europäischen Union nicht erpressen lassen werde. Anders als in Deutschland ahnden polnische Gerichte die mit EU-Recht schwer zu vereinbarende Praxis der Zurückweisung bisher nicht. Und Polen macht immer wieder deutlich, mit seinem harten Vorgehen auch Deutschland zu helfen, das die meisten Flüchtlinge nach wie vor als Zielland nennen.
Wer an der deutschen Grenze aufgehalten wird, darf nur dann zurückgewiesen werden, wenn er nicht über gültige Papiere verfügt oder eine Sicherheitsgefahr darstellt. Wer jedoch Asyl beantragt, muss anders behandelt werden. In Artikel 3 der sogenannten Dublin-III-Verordnung heißt es: „Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt.“ Zwar legt dieselbe Verordnung fest, dass im Regelfall der Staat der ersten Einreise in die EU für Asylgesuche zuständig ist, doch muss dieser zunächst einmal festgestellt werden. Das erfolgt über die Eurodac-Datei, wo die Fingerabdrücke gespeichert werden – sofern die Person im entsprechenden Land registriert worden ist. Bei drei Vierteln der Asylbewerber, die nach Deutschland kommen, ist das jedoch nicht der Fall, was das Prüfverfahren in die Länge zieht. Außerdem gibt es Ausnahmen: Wer über nahe Familienangehörige in Deutschland verfügt, darf in bestimmten Fällen seinen Antrag dort stellen. Zudem sieht das Dublin-System vor, dass Asylbewerber in ihr Ersteinreiseland überstellt werden und nicht in ein anderes Durchreiseland. Mit Ausnahme Polens sind alle deutschen Nachbarn aber selbst Transitstaaten. Zwar können die Mitgliedstaaten untereinander Verwaltungsabkommen schließen, um die Rücküberstellung zu vereinfachen, doch dürfen solche Vereinbarungen nicht das materielle Asylrecht aushebeln, das in Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta verankert ist. Der reformierte Schengener Grenzkodex wiederum sieht die Möglichkeit vor, dass Polizeibeamte grenzüberschreitend bei der Schleierfahndung kooperieren. So könnten deutsche und österreichische Beamte gemeinsam patrouillieren und Personen stoppen, bevor sie die Grenze nach Deutschland überqueren. Österreich müsste dann prüfen, welches Land für den Antrag zuständig ist. (T.G.)