Band 3 von Barus autobiographischer Serie „Bella Ciao“

„Bella Ciao“ ist in mehrfacher Hinsicht ein Wunder. Einmal deshalb, weil der französische Comicmeister Baru damit beweist, wie frisch (und frech) man auch jenseits der 70 noch erzählen kann. Dann, weil es schier unglaublich ist, dass derart aus seinem Werk vertraute Themen und Topoi noch ein weiteres Mal so überraschend eingesetzt und dargestellt werden können. Schließlich auch deshalb, weil ein so bedeutendes Großwerk (insgesamt in seinen drei Teilen mehr als 350 Seiten) nun komplett ins Deutsche übersetzt worden ist, obwohl sein Verfasser hierzulande nie die eigentlich verdiente Beachtung gefunden hat. Ich selbst schreibe seit 26 Jahren über ihn und sein Werk und habe immer noch das Gefühl, Geheimtipps preiszugeben.

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Mit Carlsen und der Edition Moderne haben sich zwei höchst renommierte deutschsprachige Verlage an Meisterwerken von Baru versucht (allen voran „Autoroute du Soleil“, aber auch „Der Champion“, „Wieder unterwegs“ oder „Die Sputnik-Jahre“) und sind damit gescheitert. Doch seit nunmehr fast 20 Jahren hält die in Wuppertal ansässige Edition 52 dem Schaffen des Franzosen die Treue, und ihr insgesamt zehnter Baru-Band ist wieder hervorragend übersetzt (Kompliment an Uwe Löhmann) und angesichts von Druckqualität und Ausstattung auch noch erfreulich preiswert. Wo bekommt man sonst einen schönen Hardcover-Band mit 132 Seiten für 20 Euro?

Die Comic-Kolumne von Andreas PlatthausF.A.Z.

In Frankreich ist dieser Abschlussband schon vor zwei Jahren beim Autorencomicverlag Futuropolis erschienen, aber zu bewältigende Textmenge und Sorgfalt der Herstellung verzögerten die deutschsprachige Ausgabe. Das Warten aber hat sich mehr als gelohnt, denn was man nun in Händen hält, ist nicht weniger als die (Zwischen-)Summa einer erstaunlichen Karriere, die spät begonnen hat, nämlich 1984, als Baru schon 37 Jahre alt war und den ersten Band von „Quéquette Blues“ herausbrachte, einer gezeichneten, nur notdürftig fiktionalisierten Reminiszenz an die Jugend des Zeichners im lothringischen Schwerindustriegebiet. Auch „Quéquette Blues“ wurde zur Trilogie, machte Furore und erlaubte dem zuvor als Sportlehrer arbeitenden Baru, fortan in Vollzeit Comics zu zeichnen. Längst ist er in seiner Heimat Frankreich eine lebende Legende. Und jemand, der auch in Deutschland bei Kennern und Könnern Aufsehen erregt hat, wie etwa der jüngst erschienene fulminante Band „Der verkehrte Himmel“ von Mikaël Ross zeigt, der sich dezidiert auf „Autoroute du Soleil“ beruft.

Vom Aufwachsen in einer feindlich gestimmten Umgebung

Barus Lebensthema ist die schwierige Integration von italienischen Einwanderern in Frankreich, und wenn man weiß, dass sich sein Künstlername der Abkürzung des Familiennamens Barulea verdankt, dann versteht man warum. Wobei Barus Vorname Hervé zeigt, dass er selbst bereits in Frankreich geboren wurde, in einer lothringischen Kleinstadt, und diese Biographie teilt der Autor mit seiner Hauptfigur Teo Martini aus „Bella Ciao“, die er allerdings etwas jünger gemacht hat: Jahrgang 1949 statt 1947. Aber die Erfahrungen Teos sind dieselben, die Hervé Barulea machte: das Aufwachsen in einer stark italienisch geprägten Industriearbeitergesellschaft, in der sich noch viele Strukturen des Herkunftslandes erhalten haben. Und das Aufwachsen in einem Frankreich, dessen angestammte Bevölkerung herabsah auf die zugezogenen Fremden, selbst noch auf die Angehörigen von deren zweiter oder dritter und längst im neuen Heimatland geborener Generation. Wie sich doch die Länder, Menschen und Vorurteile gleichen ...

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Das Cover zum dritten Band von Barus Comic „Bella Ciao“Baru/Edition 52

Die Hochofenwelt der in Frankreich wie Deutschland mittlerweile längst brachliegenden Schwerindustrie hat niemand so faszinierend pathetisch gezeichnet wie Baru. Auf den ersten Seiten des dritten Bandes von „Bella Ciao“ ist Teo unterwegs ins Hüttenwerk, um seinem Vater das Mittagessen zu bringen, und der kleine Junge vor den glutroten Szenerien der Stahlproduktion ist ein unvergessliches Bild. Doch bald ist dieser Erzählstrang aus den späten Fünfzigern schon wieder zu Ende und wir springen in eine andere Zeit, zum erwachsenen Teo, der heimgekehrt ist und noch einmal die Kollegen seines Vaters trifft. Deren Erinnerungen sind nicht mehr taufrisch, sie widersprechen dem, was Teo über die Vergangenheit zu wissen glaubt, und diese Unsicherheit, was hier Wahrheit ist, was Mythos, prägt das „Bella Ciao“-Projekt. Wer auf eine geradlinige Geschichte hofft, wird enttäuscht sein.

Familienspaltung durch die Politik

Aber die vielen Umwege, die das vielhundertseitige Erzählen Barus in immer wieder unterbrochenen Handlungssträngen nimmt, bisweilen nur zwei, drei Seiten lang, dann bisweilen in vollwertiger Albenstandardlänge, machen klar, was für einen verschlungenen Weg auch die Protagonisten der Familie Martini nehmen mussten, seit zwei Brüder kurz vor dem Ersten Weltkrieg aus Italien nach Frankreich gingen, um dem heimischen Elend zu entgehen. Dort trafen sie auf eine Welt, die zwar Arbeitskräfte brauchte, aber die Menschen dahinter nicht schätzte, also bleiben die Italiener in Frankreich unter sich, und aus dieser Welt erzählt „Bella Ciao“. Auch darüber, wie die Politik die Familie spaltete – einige Sprösslinge der Martinis in Frankreich begeistern sich für Mussolini, andere stehen konsequent links. Und unglaublich ist die Episode aus dem dritten Band, in der berichtet wird, wie sogar Italiener, die sofort mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf französischer Seite kämpften, von ihren Truppen wieder ausgesondert und zwangsweise nach Italien überführt wurden, sobald ihr Herkunftsland aufseiten der Entente gegen Deutschland in den Krieg eingetreten war, um dort die Armee zu verstärken.

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Aktuelles über sich selbst zeichnet Baru schwarzweiß, und hier tauchen dann farbig die Figuren aus seinem ersten Erfolgscomic „Quéquette Blues“ in der Erinnerung auf.Baru/Edition 52

Zwischendurch tritt Baru selbst auf, in schwarzweiß gezeichneten Sequenzen, die davon berichten, wie er für diesen Comic recherchiert hat. Das geschah meist durch Erzählungen befreundeter italofranzösischer Familien beim gemeinsamen Essen, und auch die dabei aufgetragenen Speisen sind wichtiger Bestandteil von „Bella Ciao“, dessen drei Bände jeweils die entsprechenden Rezepte bieten, diesmal etwa einen Risotto mit Steinpilzen. Baru macht aus seiner Begeisterung (persönlich, kulinarisch, historisch) für die Sache keinen Hehl, aber aus seinem Herzen auch keine Mördergrube: Vor allem ist „Bella Ciao“ ein politischer Comic, der Rassismus und Nationalismus anprangert. Sein Titel verdankt sich dem berühmten Partisanenlied, und dessen Geschichte ist ein wichtiger Bestandteil der Handlung; im nun erschienenen Anschlussband spielt sie allerdings keine Rolle mehr.

Die Rückkehr an den Ursprung

Dafür kehrt Baru ganz am Schluss noch einmal ganz an den Anfang seiner Trilogie zurück, die mit einem Massaker einsetzte, in dessen Verlauf 1893 zehn italienische Arbeiter von Franzosen erschlagen wurden, als es zu Unruhe unter den Einheimischen angesichts der als Arbeitskonkurrenten betrachteten Italiener gekommen war. Heute, so konstatiert die Erzählstimme in einer der gar nicht so seltenen bildlosen Passagen des Comics, wird in der südfranzösischen Ortschaft Aigues-Mortes (nomen est omen, möchte man meinen) regelmäßig der Rassemblement National stärkste Partei, und Baru beschließt seine Erzählung mit einem lapidaren „usw.?“. Um das Fragezeichen geht es ihm, die Geschichte muss verändert werden, das treibt all seine antikolonialistischen und um Völkerverständigung werbenden Comics an. Und dafür steht regelmäßig der Überschwang von Kindern oder Jugendlichen, die sich in den betonierten Verhältnissen partout nicht so einrichten, wie es Erwachsene von ihnen erwarten.

Kindliche Lebensfreude in prekären sozialen Verhältnissen: Seite 110 aus Band drei von „Bella Ciao“Baru/Edition 52

Wobei nach dem „usw.?“ noch zwei kurze Elemente kommen, die man gar nicht genug preisen kann. Einmal ein Stammbaum der Familie Martini, der endlich erlaubt, das personelle Wirrwarr der Großfamilie zu ordnen. Ein besonders wichtiger Handlungsteil aller drei Bände spielt während eines Familienfestes der Martinis, und als Leser fühlt man sich wie ein zufällig hineingeratener Gast angesichts der Vertrautheit der Personen miteinander, die sich beim Geplauder gegenseitig die Bälle zuspielen, ohne dabei Rücksicht auf die Ignoranz des Besuchers zu nehmen. Das Gefühl der Verlorenheit bei der Lektüre gleicht indes dem der italienischen Einwanderer in Frankreich – ein genialer narrativer Schachzug von Baru. Trotzdem ist man dankbar, in Band drei endlich einiges aufgeklärt zu sehen, was die ersten beiden Bände noch bewusst offenließen.

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Das zweite grandiose Schlusselement führt noch einmal zurück an den Anfang des dritten Teils. Dort war ein Unfall im Hüttenwerk geschildert worden, doch dessen Ablauf konnte durch die sich widersprechenden Erinnerungen nicht geklärt werden. Nun hat Baru sich selbst im Gespräch mit einem ehemaligen Kollegen seines Vaters gezeichnet, der eine plausible Version bieten kann – auch wenn sie das Ganze wieder in eine andere Zeit verlegt als gedacht. Aber so verhält es sich eben mit konkurrierenden persönlichen Erinnerungen, und dass Baru auch diese prinzipielle Unsicherheit seiner mehr als nur autobiographisch grundierten Geschichten darstellt, macht ihn zu einem Sonderfall. Dieser mittlerweile Siebenundsiebzigjährige erfindet gleichsam das Comicerzählen immer wieder neu. „Bella Ciao“ ist einfach bellissimo.

Ach ja, in Frankreich ist vor einem Jahr ein Band erschienen, in dem Baru seine in „Bella Ciao“ dokumentierte Neugier auf die Zeit der europäischen Totalitarismen weiter fortführt: „Rodina“ erzählt von einer Widerstandskämpferin in einem während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen besetzten sowjetischen Ort. Die sozialistische Nostalgie gehört, wie wir spätestens seit den „Sputnik-Jahren“ wissen, mit zu Barus Zeichner-DNA, und dass er auch vor die eigene Lebenszeit zurück erzählen kann, das hat „Bella Ciao“ zur Genüge bewiesen. Dass es sein Teo darin ist, der als Erwachsener die Sprengung auslöst, die das mittlerweile stillegelegte Hüttenwerk in Schutt und Asche legt – eine Szene, die wiederum 1994 schon am Beginn von „Autoroute du Soleil“ stand –, das ist der bezeichnende gezeichnete Kommentar eines Erzählers, der weiß, dass alle Überzeugungen den Gang der Geschichte nicht aufhalten können. Aber womöglich auf den einen oder anderen Umweg schicken.

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