Nico Schlotterbeck: Deutschland muss auf einen neuen ...

30 Jun 2024

Seine DFB-Karriere ist kurz, aber schon geprägt von bitteren Niederlagen. Im Achtelfinale soll Nico Schlotterbeck die deutsche Abwehr stabilisieren. Ist er reif dafür?

Schlotterbeck - Figure 1
Foto ZEIT ONLINE

29. Juni 2024, 15:30 Uhr

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Nico Schlotterbeck hat noch nicht oft für Deutschland gespielt, war aber schon an historischen Niederlagen beteiligt. © Federico Gambarini/​dpa

Auf die kalibrierte Linie konnte sich Nico Schlotterbeck verlassen. Die Fußspitze von Rubén Vargas befand sich im Abseits, sein Tor galt nicht. Deutschland kam um die Niederlage gegen die Schweiz herum, Schlotterbeck um eine vertiefte Debatte, ob er das Zeug zum Abwehrspieler der Nationalelf hat.

In der Entstehung des Angriffs hatte er sich weit aus der Abwehr rausziehen lassen, bei einem schnellen Richtungswechsel fiel er hin. Schlotterbeck war im Moment der Gefahr weit entfernt vom Abwehrzentrum. Es war eine Szene, die keine Folgen für das Ergebnis hatte, die aber seine Skeptiker bestärkte.

Zu denen zählte auch kürzlich noch Julian Nagelsmann. In den drei Länderspielperioden Oktober, November und März hatte er den Dortmunder nicht nominiert. "Er muss die maximale Konstanz im Klub reinbringen", begründete der damals neue Bundestrainer den Verzicht auf den Dortmunder Abwehrspieler. Erst im Mai berief er ihn, nach dessen Erfolgen in der Champions League. Es sah aus, als wäre Schlotterbeck Innenverteidiger Nummer Vier oder Fünf.

Nun ist er, der auf den letzten Drücker in den EM-Kader kam, zur Nummer Drei aufgestiegen. Alles sieht danach aus, dass er im Achtelfinale gegen Dänemark an diesem Samstag den gesperrten Jonathan Tah ersetzt, für den er gegen die Schweiz eingewechselt wurde. Nicht ausgeschlossen, dass das die Chancen auf ein deutsches Weiterkommen schmälert, denn trotz seiner kurzen Länderspielkarriere war Schlotterbeck bereits an zwei bedeutenden Niederlagen beteiligt, die er durch Fehler mitverantwortet hat. In der Nationalmannschaft hat er noch keine Reife bewiesen.

Schlotterbeck ist ein auffälliger Fußballer. Er zeigt vollen Einsatz, ist bekannt für leidenschaftliche Grätschen, vorteilhafte Härte, Tempo, Interaktion mit dem Publikum und für expressiven Jubel. Gerne zeigt er nach Toren seinen Bizeps. Er agiert sehr initiativ auf dem Platz, seine langen Pässe mit dem linken Fuß sind scharf, er drängt in die Offensive, schießt härter und dribbelt besser als die meisten Verteidiger.

Aber da fängt es schon an: Ist Schlotterbeck überhaupt ein Verteidiger? Ein Innenverteidiger ist praktisch der Bassist einer Fußballmannschaft. Nicht unbedingt für die Melodie zuständig, sondern für Rhythmus und Harmonie. Schlotterbeck hingegen neigt zum Solo.

Typisch für ihn: In der Spieleröffnung lässt er den Gegner nah rankommen, um im letzten Moment zu passen oder ihn auszuspielen. Er erinnert manchmal an einen Mittelfeldspieler oder Stürmer. Es geht oft gut, was er macht, doch diese Spielweise, nicht untypisch für einen Dortmunder, ist riskant. Manchmal riskanter, als es für einen Abwehrspieler sein sollte.

Schlotterbeck hat erst dreizehn Länderspiele absolviert, gewann gerade mal vier (gegen Oman, Peru, Israel, Griechenland). Aber er war schon einige Male Thema. Bei seinem ersten Länderspiel gegen Israel im März 2022, damals spielte er noch für den SC Freiburg, verursachte er einen Elfmeter wie in der Bezirksliga. Er führte den Ball im Strafraum, ließ sich aber zu viel Zeit und hackte den Gegenspieler um. Der TV-Experte Per Mertesacker kritisierte daraufhin den Debütanten bemerkenswert unerbittlich.

Ein halbes Jahr später fällte Schlotterbeck im Testspiel gegen England seinen damaligen Teamkollegen Jude Bellingham so hart, dass sich Aki Watzke Sorgen gemacht haben dürfte. Wieder Foulelfmeter.

Und dann leistete Schlotterbeck seinen Beitrag zu zwei historischen Niederlagen gegen Japan. Bei der WM 2022 in Katar ließ er in der Schlussphase Takuma Asano aus den Augen. Der Bochumer entwischte ihm, auch weil Schlotterbeck in der Hoffnung auf einen Abseitspfiff zögerte, statt sofort einzugreifen. Asano erzielte den Siegtreffer, der am Ende den Ausschlag für das deutsche Vorrundenaus gab.

Der ansonsten loyale İlkay Gündoğan sagte nach dem Abpfiff, solche einfachen Fehler dürfe man sich bei einer WM nicht erlauben. Er nannte Schlotterbecks Namen nicht, aber man konnte ihn sich denken. Offenbar wurde Schlotterbeck von Mitspielern und dem Umfeld als zu selbstbewusst empfunden.

Helfen zwei Jahre beim BVB?

Im vorigen September ging Deutschland dann 1:4 gegen Japan unter. Schlotterbeck, diesmal linker Außenverteidiger, kam unter vielen Schlechten am schlechtesten weg. Die ersten zwei Gegentore wurden über seine Seite eingeleitet, es blieben nicht die einzigen Fehler. Anschließend wurde der damalige Nationaltrainer Hansi Flick entlassen. Er dürfte sich gefragt haben, ob er auf den richtigen gesetzt hatte.

Julian Nagelsmann hätte Alternativen gehabt. Sollte es gegen Dänemark schiefgehen, werden ihn viele Medien und Experten an Mats Hummels erinnern. Im aktuellen Kader wäre noch Waldemar Anton, der Kapitän des Vizemeisters VfB Stuttgart, der in der neuen Saison wohl nach Dortmund wechseln wird. Anton definiert seine Rolle als letzte Instanz vor dem Tormann klarer, ruhiger, nicht so wild. Er lebt nach der Verteidigerehre: An mir kommt keiner vorbei, das nehme ich persönlich. Er lächelt nicht im Strafraum.

Was wohl der Grund für Nagelsmann ist, auf Schlotterbeck zu setzen: die internationale Erfahrung, die dem drei Jahre älteren Anton fehlt. Schlotterbeck ist nicht mehr der Alte aus seiner Anfangszeit in der DFB-Auswahl, er hat inzwischen zwei Jahre beim Spitzenteam Dortmund hinter sich. In dieser Saison hat er sich in der Champions League behauptet. In den K.-o.-Spielen gegen Atlético und PSG setzte er sich mit dem BVB durch, fast hätte er den Wettbewerb gewonnen. 

Solche Ergebnisse hätten dem Verein und auch Schlotterbeck vor einem halben Jahr niemand zugetraut. Deutschland hofft an diesem Samstag auf den neuen Schlotterbeck.

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