„Intermezzo“ von Sally Rooney: Begehren und Rivalität

Beziehung Zeitgleich, in mehreren Sprachen, rund um den Globus, erscheint der neue Roman der irischen Erfolgsautorin Sally Rooney. „Intermezzo“ verhandelt männliche Gefühls(un)fähigkeiten

Sally Rooney - Figure 1
Foto Freitag - Das Meinungsmedium

Ausgabe 39/2024

In der Literatur der bekennenden Marxistin Sally Rooney scheint durch, wie der Kapitalismus in die Liebe hineinwirkt

Foto [M]: David Levenson/Getty Images

Vielerorts waren am 24. September Buchhandlungen um Mitternacht geöffnet. Der Grund: Ein neues Buch der irischen Erfolgsautorin Sally Rooney ist erschienen, zeitgleich, in mehreren Sprachen, rund um den Globus. Auch das Medienembargo ist international abgestimmt. Kaum mehr als Cover und Klappentext ist vorab an die Öffentlichkeit gelangt. Dabei steht im Buch nicht wirklich etwas, das gespoilert werden könnte. Der vierte Roman der 1991 geborenen Autorin hat, wie ihre ersten drei, weder eine ausufernde Handlung noch raffinierte Plot-Twists. Stattdessen verbindet man mit dem Namen Rooney sorgfältig gestrickte Beziehungsgeflechte, Charaktere und Dialoge, die allein mitreißend genug sind, um ihnen mehrere hundert Seiten lang zu folgen.

Zwei trauernde Brüder

Intermezzo ist die Geschichte zweier Brüder: Ivan und Peter. Der eine, Anfang 20, ein Schachgenie mit Zahnspange und geringer sozialer Kompetenz. Der andere ein erfolgsorientierter, aber desillusionierter Anwalt in den 30ern, der seine Stimmungen mit Sex und Medikamenten reguliert. Zwischen Dublin und drei (teils fiktionalen) Kleinstädten werden Familienkonflikte und Beziehungsgeschichten der Brüder aufgeschlüsselt. Und das, während sich die Brüder selbst im Buch nur wenige Male begegnen.

Intermezzo nennt man im Schach einen Zwischenzug: eine unerwartete Bewegung, die den Gegenspieler zum Reagieren zwingt. Das Zwischenspiel, in dem die Brüder sich befinden, beginnt mit dem Tod des Vaters nach langwieriger Krebserkrankung. In der Phase der – auf je eigene Weise unartikulierten – Trauer kommt es zum Zerwürfnis.

Die Geschwisterbeziehung ist neues Terrain für Rooney. Ihre früheren Werke brachten der Autorin den Ruf ein, eine Meisterin des „will-they-won’t-they“ zu sein: des klassischen Plots einer (oder mehrerer) romantischer Beziehungen mit Hindernis. In ihrem Debüt Conversations with Friends (2017) treffen die (Ex-)Freundinnen Frances und Bobbi auf das ältere Hetero-Ehepaar Melissa und Nick, und es beginnt eine komplizierte Ménage-à-quatre. Normal People (2018) wiederum ist eine On-off-Liebesgeschichte, in der auch Klassenunterschiede thematisiert werden und deren Serienadaption die weltweite Rooneymania entfachte.

Auch in Intermezzo bleibt Rooney bei dem, was sie beherrscht: den komplizierten Gefühlswelten des Begehrens (und den dazugehörigen Sexszenen). Am plastischsten zeigen sich die beiden Bruderfiguren in ihren Verhältnissen zu den Frauen im Buch.

Peter steckt in einem moralischen Dilemma. Er versucht mit gleich zwei Beziehungen zu jonglieren: Da ist Naomi, eine Studentin im Alter seines jüngeren Bruders, die sich ihm im Bett unterwirft, ihn jedoch intellektuell nicht zu erfüllen scheint; daneben Literaturprofessorin Sylvia, seine erste große Liebe, die aufgrund chronischer Schmerzen infolge eines Unfalls für ihn sexuell nicht verfügbar ist. Über weite Strecken hadert er mit seiner Situation, doch dann machen die beiden Frauen ihm ein polyamoröses Angebot. Dieses wirkt etwas fabriziert, auch wenn Rooney Peter in inneren Monologen über Monogamie, Sexualität und gesellschaftliche Erwartungen an Beziehungsformen sinnieren lässt.

Ivan wiederum trifft bei einem Simultanschachturnier im entlegenen Clogherkeen auf Margaret, die Leiterin des dortigen Kulturzentrums. Es beginnt eine heimliche Liebe im umgekehrten Altersverhältnis zu Peter und Naomi: Margaret ist 36, Ivan 22. Doch wirken Ivans Gefühle für die verheiratete und frisch getrennte Margaret entgegen aller Unwahrscheinlichkeit umso aufrichtiger. Rooney zeigt anhand von Margarets inneren Konflikten sowie dem Streit zwischen den Brüdern, wie gnadenlos der gesellschaftliche Blick auf eine Beziehung ist, in der die Frau den Part der Älteren innehat. „Wie schändlich, sexuelle Beweggründe. Und dann noch bei einer Frau.“

Erzählerisch wechselt Rooney in einer internen Fokalisierung zwischen Peter und Ivan hin und her. Während Peters Kapitel über weite Strecken aus stakkatoartigen Bewusstseinsströmen voller Selbstzweifel bestehen, ist der Ton in Ivans Passagen sachlicher, doch nicht weniger intim. Die ungekünstelte deutsche Übersetzung von Zoë Beck könnte die Persönlichkeiten der Brüder sprachlich kaum besser treffen.

Weder der logische Ivan noch der betäubte Peter scheinen Zugang zu ihrer Trauer zu haben, lassen stattdessen Wut hervortreten. Die emotionale Arbeit wird, wie so oft, von Frauen getragen. Nicht selten fragt sich die Leserin: Warum muss das alles so kompliziert sein? Am Ende von Intermezzo finden beide Brüder auf jeweils eigenem Weg zu sich zurück und übernehmen die Trauerarbeit: „Das Ereignis ist vorüber, es ist überstanden, der Verlust beginnt gerade erst.“

Auch die Konfrontation mit gängigen Beziehungsidealen ist gelungen. Dass von auf Monogamie und Reproduktivität ausgelegten Altersverhältnissen (sprich: älterer Mann, jüngere Frau) am Ende der Kapitalismus profitiert, lässt Rooney als bekennende Marxistin im Subtext mitschwingen. Andere gesellschaftspolitische Verweise kommen im Buch hingegen eher plakativ daher.

Kritikerinnen wollen der Autorin ihre Politik ohnehin nicht abnehmen. Millionen verkaufter Bücher, Übersetzungen in über 40 Sprachen und zwei Serienadaptionen lassen Zweifel aufkommen. Geht es ihr bloß ums Geld? Sind die Dialoge schon fürs spätere Drehbuch geschrieben? Gefühle? Sowieso Trivialliteratur.

Nachdem bei Schöne Welt, wo bist du (2021) schon mehr über das Merchandise als über das Buch selbst berichtet wurde, wird die literarische Welt Rooney nun erneut an den äußeren Markern ihres Erfolgs messen. Doch wer ihren neuen Roman in der Erwartung liest, den Hype zu verstehen, kann nur enttäuscht werden. Die große Stärke von Intermezzo liegt darin, wie Rooney männliche Gefühls(un)fähigkeiten nachzeichnet.

Intermezzo Sally Rooney Zoë Beck (Übers.), Claassen 2024, 496 S., 24 €

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