Das Auffälligste in Moskau ist wohl die Ruhe. Wer den Fernseher nicht einschaltet (dort ist die Propaganda allgegenwärtig), weiß gar nicht, dass der Krieg existiert. Auch die Wehrpflicht wurde in Moskau und St. Petersburg bewusst eingeschränkt. Viele aus der jüngeren Generation, die zu Beginn des Kriegs ins Ausland geflohen waren, sind zurückgekehrt. Die Angst vor möglicher Einberufung und gezielte Repressionen sorgen jedoch dafür, dass es unter der Jugend kaum Proteste gibt.
Was die Geschäfte betrifft, weiß man nicht, ob die Louis-Vuitton-Handtaschen echt sind oder nicht – jedenfalls herrscht kein Mangel daran. Russland führt auch vor, was Europa vielleicht beherzigen sollte: In einer unsicheren Welt tut man gut daran, seine Lebensmittel selbst anzubauen.
In den Provinzen soll es anders aussehen. Ihnen haben die Wehrpflicht und die Verluste hart zugesetzt. Gleichzeitig erleben die Industrieregionen einen enormen, rüstungsbedingten Aufschwung. Der Arbeitskräftemangel ist spürbar. Man hört Geschichten von technischen Angestellten im Rentenalter, weit über siebzig, die jetzt ihr Einkommen aufbessern und auch die Selbstachtung wiedererlangen, die sie im Zusammenbruch der 1990er-Jahre verloren hatten. Nicht wenige Russen sagen mir: „Durch den Krieg tun wir viele Dinge, die wir in den Neunzigern hätten tun sollen.“
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Kriegsbegeisterung ist in Moskau kaum zu spüren. Meine Gespräche mit russischen Eliten deuten an, dass eine sehr große Mehrheit den Krieg nicht gewollt hat. Man will auch nicht bis zum Sieg kämpfen, sondern wünscht sich einen Verhandlungsfrieden. Unübersehbar ist der Widerstand gegen jede Kapitulation, auch gegen die Rückgabe der von Russland annektierten Provinzen.
Hinzu kommt die Ablehnung der Eroberung ukrainischer Großstädte. Charkiw ist mindestens dreimal so groß wie Mariupol: „Selbst wenn es gelänge, wären unsere Verluste enorm, der Tod von Zivilisten ebenso, und wir würden Trümmerhaufen hinterlassen, die wir wieder aufbauen müssten“, sagt mir ein russischer Analyst.
Trotz der Polemik von Prominenten wie dem ehemaligen Präsidenten Dmitri Medwedew gibt es kaum Hassgefühle den Ukrainern gegenüber (anders als gegenüber der ukrainischen Regierung). Das hat auch damit zu tun, dass viele Russen ukrainischer Herkunft sind. Es erklärt auch, warum Putin den Krieg als einen mit der Nato und nicht mit der Ukraine darstellt. Mich erinnert es an Begegnungen im letzten Jahr in den russischsprachigen Gebieten der Ukraine. Die Menschen dort, viele selbst russischstämmig, hassten nicht das russische Volk. Sie hassten die russische Regierung.
Unter den außen- und sicherheitspolitischen Eliten kursieren verschiedene Ideen zum Kompromiss: eine von den Vereinten Nationen getragene Sicherheitsgarantie ohne Nato-Beitritt der Ukraine oder entmilitarisierte Zonen mit UN-Friedenstruppen. Alle gehen davon aus, dass nur die USA Friedensgespräche einleiten können – und dass dies frühestens nach den dortigen Wahlen geschieht.
Die Stimmung reflektiert die Akzeptanz des Kriegs als unvermeidlich. Begeisterung ist abwesend, und die Regierung scheint zufrieden damit. Nach wie vor weigert Putin sich, mehr als nur einen Teil der russischen Streitkräfte zu mobilisieren. Das Regime will weder einen Volkskrieg noch massenhaften Enthusiasmus. Allem Anschein nach lautet die Maxime: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“
Anatol Lieven ist Direktor des Eurasienprogramms am Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington. Im Mai/Juni reiste er zu einem Treffen des BRICS Academic Forum nach Moskau.