Tickende Zeitbomben: Terroristen – unter dem Radar der Behörden

22 Jan 2023

David Sonboly ermordete 2016 in München neun Menschen. Ganz aufgeklärt ist der Fall bis heute noch nicht. Jetzt eröffnet die Stadt einen Gedenkraum.

Sie waren tickende Zeitbomben: Drei Jugendliche, zwischen 15 und 21 Jahre alt. 2016 und 2017 planten sie Terroranschläge und Amokläufe in Deutschland und den USA. Zwei von ihnen töteten insgesamt elf Menschen – darunter neun beim Attentat am Olympiaeinkaufszentrum (OEZ) in München.

Dafür beschafften sie sich Pistolen, bauten ihren eigenen Sprengstoff – inspiriert von rechtsextremen und dem Amokmilieu nahestehende Gruppen auf vermeintlich harmlosen Kommunikations- und Spieleplattformen wie Steam, Discord und Telegram. Die ARD-Doku "Liken. Hassen. Töten." gab vergangenes Jahr verstörende Einblicke in den Radikalisierungsprozess der jungen Terroristen.

Eine Szene aus der ARD-Doku: Drei anonyme Jugendliche radikalisieren gegenseitig im Internet.

Eine Szene aus der ARD-Doku: Drei anonyme Jugendliche radikalisieren gegenseitig im Internet und tauschen ihre Anschlagsfantasien aus. (Quelle: Bayerischer Rundfunk / Arte)

Hinter Terroristen und Amokläufern steckt Netzwerk

Dabei schafften sie etwas Außergewöhnliches: Jahrelang blieben William Atchison, Terrorist aus Aztec in den USA, Paul (Name geändert), Amoklauf-Planer aus Ludwigsburg und David Sonboly, OEZ-Attentäter aus München, unter dem Radar der Behörden. Dass sich hinter den radikalisierten Jugendlichen die Untiefen eines neuartigen Terrornetzwerks verbergen, war den Ermittlern jahrelang unklar.

Seit nunmehr fast sieben Jahren kämpfen neun Opfer-Familien inzwischen für die vollständige Aufklärung des OEZ-Anschlags, bei dem David Sonboly ausschließlich junge Menschen mit Migrationshintergrund erschoss. Jahrelang sahen die Behörden den Anschlag als unpolitischen Amoklauf und vernachlässigten eindeutige Indizien, die für ein rechtsextremes Attentat sprachen. Jetzt geht die Stadt München einen Schritt auf die Hinterbliebenen zu.

Gedenkraum für Opfer des OEZ-Anschlags

Mit der Initiative "München erinnern!" eröffnet am Sonntag, 22. Januar, im Rathaus ein Gedenkort für die Opfer des OEZ-Anschlags im politischen Herzen der Stadt. Die Angehörigen der Opfer vom 22. Juli 2016 und ihre Unterstützer können diesen Raum nutzen und selbst gestalten. Bis Ende August 2023 steht ihnen der Raum unentgeltlich zur Verfügung. Dann soll ein neuer Gedenkort gesucht werden. Damit unterstütze die Stadt das "Gedenken an das rechtsextreme Attentat", wie aus einer Pressemitteilung hervorgeht. Unterstützung, die allerdings sehr spät kommt, wie viele Angehörige denken.

Der Schmerz steckt tief (Archivbild): Bis heute trauern die Angehörigen um die Opfer des Anschlags.

Der Schmerz steckt tief (Archivbild): Bis heute trauern die Angehörigen um die Opfer des Anschlags, von nun an auch im Gedenkraum der Stadt München. (Quelle: imago stock&people)

Ein Rückblick: Nach dem OEZ-Anschlag vor sieben Jahren waren die Ermittler bemüht, schnell die Motivation des Attentäters herauszufinden. Alexander Horn, Leiter der operativen Fallanalyse (OFA) in München, kam dabei nach wenigen Tagen zu dem vorläufigen Ergebnis, dass es sich bei dem rechtsextremen Anschlag, um einen unpolitischen Amoklauf handele – das belegen die Ermittlungsakten.

Trotz eigentlich klar anderslautender Indizien: David Sonboly führte das Attentat im Stadtteil Moosach am fünften Jahrestag der Anschläge von Anders Behring Breivik aus – der Massenmörder und bekennende Nationalsozialist, der 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete. Von ihm ließ sich der 18-jährige Münchner beeinflussen. Er sei zudem "stolz" darauf gewesen, am selben Tag wie Adolf Hitler Geburtstag zu haben. Informationen des "Münchner Merkur" zufolge sympathisierte der junge Mann mit dem Parteiprogramm der AfD.

In seinem Manifest, das öffentlich wurde, nachdem er sich kurz nach dem Anschlag suizidierte, schrieb er von "Kakerlaken" und "Untermenschen" und einem "Virus", das sich in Moosach – einem Stadtteil, in dem jeder vierte Einwohner einen Migrationshintergrund hat – verbreitete.

Behörden erkannten Indizien spät

Staatsanwaltschaft München I

Der Schriftzug "Staatsanwaltschaft München I" am Eingang der Staatsanwaltschaft (Archivbild): Diese Behörde führte den Prozess gegen den Mann, der dem Münchner Attentäter die Waffe verkauft hatte. (Quelle: Matthias Balk/dpa/Archivbild/dpa-bilder)

Wie sich erst 2019, drei Jahre nach dem Anschlag, herausstellte: Der Profiler Alexander Horn lag mit seiner Ersteinschätzung falsch. Genauso wie die Staatsanwaltschaft München I.

Im Gerichtsprozess vor sechs Jahren gegen den Waffenhändler, der dem Münchner Attentäter seine Tatwaffe, eine Glock 17 in Marburg, verkaufte, sprachen die Staatsanwälte vor dem Oberlandesgericht noch von keiner rechtsextremen Tat. Obwohl selbst der Waffenverkäufer vor dem Prozess mit rechten Parolen aufgefallen war – wie während des Gerichtsprozesses eingespielte Videos beweisen. Der Behördenleiter Hans Kornprobst warnte sogar damals im Gespräch mit dem "Bayerischen Rundfunk" davor, den OEZ-Amoklauf ausschließlich als rechte Tat einzuordnen. Warum, ist unklar.

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