Verfehlte Kriegsziele: Russische Meinung gegen Putin wendet sich

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Stand: 24.09.2024, 05:03 Uhr

Von: Karsten-Dirk Hinzmann

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Der russische Präsident Wladimir Putin in einer nachdenklichen Pose.

Wachsende Zweifel: Im „System Putin“ klaffen Risse. Spätestens seit die Ukraine mit Truppen in Kursk steht, wächst die Kritik an Wladimir Putin. Gerade in Sozialen Medien werden die Fehler der militärischen Führung kontrovers diskutiert – und mittlerweile dem Diktator selbst angelastet. © Vasily Maximov / Pool / AFP

Russland mobilisiert sich: gegen Putin. Zumindest geheim. Eine Umfrage zeigt, dass die Unterstützung für einen Friedensvertrag mit der Ukraine zunimmt.

Moskau – „Ist der alte Mann noch eine Bereicherung oder bereits eine Belastung?“, sei eine mittlerweile wiederholt gestellte Frage unter Russlands Eliten – das behauptet Ekaterina Schulmann. Die Wissenschaftlerin des Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin sieht aber noch keine Gefahr für Wladimir Putin ob seiner Misserfolge im Ukraine Krieg. Offenbar beließen Russlands Profiteure alles beim Alten, so lange ihnen ein Machtkampf in Moskau zu gefährlich erschiene. Jetzt käme aber Gegenwind auch aus der Bevölkerung, berichtet die Kiew Post unter Berufung auf eine aktuelle Umfrage.

Demnach votierten aktuell fast 50 Prozent der russischen Bevölkerung für einen Truppenabzug aus der Ukraine und für Friedensverhandlungen, auch wenn die militärischen Ziele des Kremls nicht erreicht würden. Dies ginge aus einer gemeinsamen Umfrage der unabhängigen Meinungsforschungsinstitute ExtremeScan und Chronicles hervor, wie die Kiew Post schreibt. Diese Umfrage ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens müssten sich danach die Befragten dezidiert gegen Putin gestellt und das auch geäußert haben, und zweitens schiene sich das russische Diktum eines Befreiungskrieges gegen das faschistische Ausland in Luft aufgelöst zu haben.

Kursk als Warnung: Russlands Bevölkerung befürwortet Rückzug aus der Ukraine

Auch die Kiew Post äußert Erstaunen über den vermeintlichen öffentlichen Sinneswandel. Das sei ein Anstieg von fast zehn Prozent gegenüber den drei vorherigen Umfragen seit Februar 2023, berichtet die Post. Im Februar dieses Jahres soll eine Umfrage durch das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada noch ergeben haben, dass 77 Prozent der Russen einen umfassenden Krieg in der Ukraine befürworteten, wie das Magazin berichtet. Die Vergleichbarkeit beider Umfragen vorausgesetzt, müsste sich die öffentliche Meinung insofern tatsächlich deutlich gewandelt haben.

„Kreml-Propaganda, Manipulation und Ablenkungsmanöver können angesichts der schlechten Nachrichten, die in ganz Russland breit diskutiert werden, nur begrenzt etwas bewirken.“

Allerdings rückt das Magazin Newsweek die Zahlen ins rechte Licht und stellt damit deren Aussagekraft infrage: Die Umfrage soll zwischen dem 10. und 17. September unter 800 Personen durchgeführt worden sein – die Frage der Repräsentativität bleibt insofern unbeantwortet. Aktuell umfasst Russland rund 143 Millionen Menschen – ein Viertel davon soll auf dem Land leben. Die der Umfrage zugrunde liegende Matrix bleibt im Dunklen.

Andere Meinungsforscher sehen die „öffentliche Meinung“ differenziert: Aller Entwicklungen an der Front zum Trotz würden sich die Russen gleichermaßen weiterhin um Putin scharen, betont Waleri Fjodorow, der Politologe und Chef des Meinungsforschungsinstituts VCIOM im Interview mit dem staatlichen Sender RBC: „So unterschiedlich diese Gruppen auch waren, alle, mit Ausnahme derjenigen, die weggezogen waren, schlossen sich um Wladimir Putin zusammen. Sie halten ihn nicht nur als Symbol, sondern auch als rettenden Anker fest. In der Extremsituation, in der sich Russland heute befindet, bleibt Putin ein Beschützer und Retter“, sagt er.

Ukraine selbstbewusst: Selenskyjs Volk glaubt weiterhin an Möglichkeit eines Sieges

Die scheinbare Unauflösligkeit der Situation zeigt sich darin, dass die Ukrainer ihrerseits mehrheitlich weiter an Erfolge auf dem Schlachtfeld glauben und emotional weit weit weg sind von einer Kapitulation – das hat eine Umfrage der in den USA ansässigen Carnegie-Stiftung ergeben. Nicole Gonik und Eric Ciaramella fassen die Umfrage dergestalt zusammen, dass die Erwartungen in einen Sieg der Ukraine noch hoch sind. Die Empfehlung der Autoren an Präsident Wolodymyr Selenskyj und westliche Regierungen lautet aber gleichwohl, klar zu kommunizieren, was militärisch überhaupt machbar sei.

„Je länger sich der Krieg hinzieht, desto weniger Vertrauen haben die Menschen darin, dass er für sie und für Russland zu einem guten Ende kommen wird“, sagte Aleksei Miniailo, ein russischer Oppositionspolitiker und Mitbegründer von Chronicles, gegenüber dem Magazin Newsweek. Allerdings scheint das eher eine Kritik an dem Verlauf des Krieges zu sein, anstatt an dessen Ursachen – was durchaus vom Kreml gesteuert ist; wie das Desaster um Kursk zeigt. Putin schiebt die Niederlage auf das Militär ab, wie die Washington Post berichtet: Der Kreml habe stillschweigend einer umfassenden Säuberung im Verteidigungsministerium zugestimmt – der Vorwurf lautet häufig: Korruption oder Betrug. Festnahmen ziehen sich wohl auch hinunter bis in niedrigere Offiziersränge.

Gegenoffensive in Sozialen Medien: Kritik an Putin unter Bloggern wächst

Möglicherweise hat sich dieser politische Kniff aber inzwischen abgenutzt. „Die Haltung der Russen gegenüber Putin könnte sich ändern“, hatte vor rund vier Wochen die New York Times (NYT) behauptet. Ende August hatten Meinungsforscher veröffentlicht, dass in wichtigen Regionen Russlands die Missstimmung gegen Wladimir Putin steige – auf der Basis von Daten in Sozialen Medien. Selbst die Propaganda des Kreml über die Mainstream-Kanäle könne da kaum gegensteuern, hatte das in den USA ansässige Analyse-Unternehmen FilterLabs AI behauptet.

FilterLabs habe laut eigener Aussage festgestellt, dass die Zustimmung gegenüber Putin sinke; sowohl in den sozialen Medien –darunter Plattformen wie Social Media, Messaging-Apps, Online-Foren und Kommentarbereiche für Nachrichten – als auch in der Mainstream-Presse. Spätestens seit dem Eindringen ukrainischer Truppen auf dem russischen Territorium habe sich demnach die Stimmung in der Bevölkerung verschlechtert; so geografisch wie militärisch oder strategisch nichtig der von der Ukraine besetzte Zipfel Russlands auch sein mag.

Zahlen belegen: Putins Nimbus bröckelt da, wo er Soldaten rekrutiert und Panzer produziert

FilterLabs hat eine Missstimmung gegenüber Putin festgestellt gerade in den Regionen, „die das russische Verteidigungsministerium für die Rekrutierung von Zeitsoldaten ins Visier genommen hat“, wie die Analysten schreiben. Mit dem Vormarsch der Ukraine nach Russland hinein habe Putins Nimbus einen gehörigen Kratzer erhalten. FilterLabs hat auch Missmut festgestellt in Regionen, die für die Rüstungsproduktion entscheidend sind.

Fakt scheint demnach zu sein, dass Putins Arm kürzer ist als vielleicht vermutet. FilterLabs kommt zu der Überzeugung, dass die Kontrolle der Mainstream-Medien aus Moskau heraus noch leidlich funktioniere. „Außerhalb der nationalen Nachrichten und der Hauptstadt ist es jedoch angesichts wirtschaftlicher und anderer Herausforderungen schwieriger, den Abwärtstrend der Stimmung in den Nachrichtenagenturen zu kontrollieren“, schreibt FilterLab.

„Putins Reaktion auf den Übergriff der Ukraine wurde im besten Fall als unzureichend und im schlimmsten Fall als beleidigend empfunden“, sagte Jonathan Teubner, der Geschäftsführer von FilterLabs, wie die NYT berichtet. Teubners Analysen sind die eine Seite der Medaille im Für und Wider der Diskussion ob der Stabilität des Systems Putin. „Es ist derzeit schwierig, die Wirkung der ukrainischen Gegenoffensive einzuschätzen“, sagte Teubner laut der NYT. „Aber es ist klar, dass sie schockierend und für Putin peinlich ist. Kreml-Propaganda, Manipulation und Ablenkungsmanöver können angesichts der schlechten Nachrichten, die in ganz Russland breit diskutiert werden, nur begrenzt etwas bewirken“, führt er aus.

Kursk als Wendepunkt: Russland will scheinbar endlich zur Ruhe kommen

Damit hätte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erreicht, was er gegenüber der freien Welt als Ziel der ukrainischen Offensive in Richtung Moskau ausgegeben hatte – mit all den Verlusten auf beiden Seiten, die damit ihren politischen Wert erhielten. Allerdings bleibt fraglich, ob der Countdown der putinschen Diktatur tatsächlich läuft, oder ob der Potentat das Leiden der kämpfenden Kräfte oder der zivilen Bevölkerung ins Unendliche wird verlängern können.

In Russland herrsche im Allgemeinen eine bunte Mischung aus Angst und dem Wunsch, das Leben auf unterschiedliche Weise zu normalisieren, wie der russische Meinungsforscher Waleri Fjodorow gesagt hat. Demnach wolle der Russe vielleicht tatsächlich die Auseinandersetzung mit der Ukraine gewinnen, aber er wolle auch sein eigenes Leben vom Weltgeschehen abstrahieren, formuliert Fjodorow gegenüber RBC. Gleichzeitig beobachte er Anpassungsprozesse: Auch wer nicht aktiv kämpfe, habe eventuell Angehörige an der Front; womit der Krieg näher an das eigene Leben heranreiche und entsprechende Gefühle und dann letztendlich Stimmungen provoziere.

Und die Hauptstadt Moskau sei ohnehin ein Kosmos für sich – da sei der Krieg noch viel abstrakter spürbar als beispielsweise in Kursk. Dennoch registriere die Bevölkerung, dass jeder Tag Überraschungen bringen könnte – beispielsweise einen Drohnen-Angriff auf den Kreml, wie Fjodorow sagt. „Die meisten sind überzeugt, dass wir nicht angefangen haben und dass wir uns eher gegen den kollektiven Westen verteidigen, als ihn anzugreifen.“

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