Erwägt Putin einen Angriff auf Deutschland? So schätzen Experten ...

23 Jun 2024
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Stand: 23.06.2024, 05:23 Uhr

Von: Peter Sieben, Florian Pfitzner

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Wäre ein russischer Angriff auf Deutschland wirklich vorstellbar – ein militärischer, wohlgemerkt? In Sicherheitskreisen hat man dazu eine klare Meinung.

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Foto Frankfurter Rundschau

Berlin – Die Krux mit der Sicherheit: Es gibt für sie niemals eine Garantie. Das lehrt die Geschichte, auch die jüngste. Vor ein paar Jahren hätte kaum jemand damit gerechnet, dass Putins Russland wirklich die Ukraine überfällt. Inzwischen tobt der Krieg seit zweieinhalb Jahren. Aus deutscher Perspektive nur wenige Flugstunden entfernt, in der gesellschaftlichen und politischen Wahrnehmung mitunter aber weit genug weg. Ein Krieg gegen das Nato-Land Deutschland? Unvorstellbar!

In Bundeswehrkreisen gibt es dazu andere Einschätzungen. Russlands Präsident Wladimir Putin sei niemand, der sich vom Nato-Status abschrecken lasse, sagen Sicherheitsexperten. Sobald er eine gute Gelegenheit sehe, werde er handeln – mit dem Ziel, eine Art Sowjetunion 2.0 zu errichten.

An der Nato-Ostflanke sehen sie durch Putin eine konkrete Kriegsgefahr

Russland füllt seine Kriegsreserven schneller wieder auf, als gedacht. Erst vor wenigen Tagen sagte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD): „Man muss davon ausgehen, dass Russland 2029 in der Lage sein wird, einen Nato-Staat anzugreifen.“ In den Baltenstaaten sprechen manche Militärs schon nicht mehr von der Nato-Ostflanke, sondern von einer potenziellen Front. „Ihr seht nur Rauch, wir sehen schon Feuer“, sagt man dort symbolträchtig in Richtung Deutschland.

Der russische Präsident Wladimir Putin (3.v.l) während eines Besuchs des Rüstungsunternehmens Uralwagonsawod. © picture alliance/dpa/Zuma Press

Auch in den nordischen Ländern nimmt man die Bedrohung sehr ernst. In Norwegen, ein direkter Nachbar Russlands, wurde jüngst ein Langzeitplan für Verteidigungsausgaben beschlossen, der als historisch gilt. Und der norwegische Verteidigungsminister Bjørn Arild Gram machte im Interview mit dieser Redaktion deutlich: „Russland ist die größte Bedrohung für die norwegische und europäische Sicherheit.“ Putin sei unberechenbar.

Lindner verteidigte die Ukraine-Politik der Bundesregierung zuletzt leidenschaftlich

Den Willen und die Kapazitäten Russlands könne man nicht beeinflussen, wohl aber die Gelegenheit, heißt es aus bundeswehrnahen Kreisen. Wenn es nicht gelinge, einen Krieg zu verhindern, müsse Putin mit allen Mitteln geschlagen werden. „Das kann kein Land alleine schaffen, auch nicht die USA“, so ein Insider. Die Bundesregierung müsse die potenzielle Bedrohung ernster nehmen und sich vorbereiten. Es gehe dabei auch um Abschreckung: Putin wisse genau, wie es um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands stehe.

In der sogenannten Elefantenrunde nach der Europawahl verteidigte FDP-Chef Christian Lindner die Ukraine-Politik der Bundesregierung zuletzt leidenschaftlich. Zur Gefahr eines möglichen Flächenbrandes sagte er: „Ich glaube nicht, dass Putin Deutschland angreifen will. Ich bin überzeugt, er will die Europäische Union und er will die Nato spalten.“

Putin versucht längst, Europa durch hybride Kriegsführung einzuschüchtern

Angesichts der großen Kriege in Europa zeigte sich der russische Präsident Wladimir Putin in früheren Jahren durchaus geschichtsbewusst, schon wegen der eigenen familiären Prägung. Er veröffentlichte einst einen zutiefst persönlichen Aufsatz, in dem er von den grausamen Erlebnissen seiner Eltern im Zweiten Weltkrieg erzählt. Putins Mutter wäre nach dieser Erzählung um ein Haar verhungert, trotzdem habe sie für die Deutschen keinen Hass empfunden.

Trotz dieser Prägung versucht Wladimir Putin schon seit Jahren, die Staaten Europas durch hybride Kriegsführung einzuschüchtern. Täglich ist Deutschland Ziel von russischen Cyberattacken und Desinformationskampagnen. Wäre jedoch auch ein militärischer Schlag vorstellbar?

Deutschland hat innerhalb der Nato eine Drehscheibenfunktion

Der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), Generalmajor Wolf-Jürgen Stahl, sieht darin eine reale Gefahr. „Deutschland ist durch seine Lage in Europa, seine Verkehrswege und seine Stützpunkte für die Nato im Rahmen der Bündnisverteidigung die zentrale logistische Drehscheibe“, erklärt Stahl im Gespräch mit dieser Redaktion. „Im Fall eines Angriffs auf Polen oder die baltischen Staaten wäre Deutschland kein Frontstaat wie im Kalten Krieg. Nato-Truppen und Waffensysteme würden dann aber in deutschen Häfen und Flughäfen landen, quer durch Deutschland weiterverlegt und dabei versorgt werden müssen.“

Aus Sicht des Generalmajors würden daraus ernsthafte Konsequenzen für die Bundesrepublik hervorgehen. Um die logistische Hintergrundarbeit des Nordatlantikpaktes zu erschweren, „würde ein Gegner die dafür nötige Infrastruktur und Unterstützungsleistungen in Deutschland ins Visier nehmen – durch Sabotage, Anschläge, Cyberangriffe und letztendlich gegebenenfalls auch Angriffe mit weitreichenden Waffen wie Raketen“, sagt BAKS-Präsident Stahl. „Gegen all diese Bedrohungen muss sich die Bundesrepublik gemeinsam mit der Nato aufstellen, um die Drehscheibenfunktion glaubhaft zu erfüllen.“

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