Giro d'Italia: Die Dominanz des Gesamtsiegers Tadej Pogacar ist ...
Tadej Pogacars Dominanz ist erdrückend: Er gewinnt den Giro d’Italia mit fast 10 Minuten Vorsprung
Der Slowene interpretiert die Herangehensweise an Grand Tours neu: Er fasziniert als Ausreisser. Doch Pogacars Überlegenheit verhindert jegliche Spannung.
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Mit einer Verbeugung überquerte Tadej Pogacar am Samstag den Zielstrich der 20. Giro-Etappe. Wieder einmal hatte der Slowene als Erster die weisse Linie passiert – zum vierten Mal als Solist, zum insgesamt sechsten Mal an dieser Italienrundfahrt. Damit wurde die abschliessende Etappe vom Sonntag für ihn zur Triumphfahrt nach Rom.
Pogacars Überlegenheit am 107. Giro d’Italia war erdrückend. Deshalb musste darüber spekuliert werden, vor wem der gegenwärtige Dominator des Radsports sein Haupt beugte. Geschah es aus Respekt vor sich selbst, vor der eigenen Leistung? Oder wollte er den Teamkollegen danken, die ihn auf der vorletzten Etappe perfekt lanciert und damit gezeigt hatten, dass sie als Equipe gar nicht so schlecht sind?
Pogacar siegt, selbst wenn er es nicht vorhatDie Helfer hatten Pogacar im Laufe dieses Giro selbst dann zu Siegen animiert, wenn ihr Chef das gar nicht geplant hatte: Auf der 8. Etappe nach Prati di Tivo wollte Pogacar seinen Teamkollegen etwas Ruhe gönnen. Doch diese fühlten sich beim gepflegten Abstandhalten hinter der Ausreissergruppe so gut, dass sie Pogacar vorschlugen: «Wir holen die Gruppe zurück, du greifst an und erkämpfst dir den Sieg.»
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So erzählte der UAE-Teammanager Mauro Gianetti später die Geschichte jenes Triumphs. «Ich weiss nicht, ob es viel Überzeugungsarbeit brauchte, denn Tadej muss nicht lange überlegen, wenn es um die Chance auf einen Sieg geht», meinte der frühere Schweizer Radprofi. Es wurde dann Pogacars einziger Sieg auf einer Etappe mit Massenstart, den Pogacar nicht als Solist, sondern im Sprint einer Favoritengruppe errang.
Das war das auffälligste Merkmal seiner Überlegenheit: Pogacar liess sich heuer nicht im Bergzug noch die letzte Kuppe hinauffahren, um dann im Duell der Captains ein paar Sekunden herauszuholen. Lieber trat der 25-Jährige allein an – mal geschah das 34, mal 14, dann 4 Kilometer vor dem Ziel. Und immer stellte er gleichsam spielend einen grösseren Abstand her. «Ich hätte auch gerne mal eine Etappe gewonnen. Aber es gab eben Pogacar», sagte Daniel Felipe Martínez. Der Kolumbianer wurde Gesamtzweiter. Er klassierte sich als Zweiter hinter Pogacar bei dessen Etappensiegen in Oropa und Prati di Tivo.
Der Slowene ist nicht mehr so explosiv wie früherDass der Slowene selbst so oft die Soloflucht antrat, ist ungewöhnlich für einen Klassementfahrer. Sie bevorzugen es üblicherweise, im Windschatten so lange wie möglich Kräfte zu sparen. Pogacar hingegen schien Kräfte zu sparen, wenn er allein unterwegs war. So musste er zumindest keine Risiken in der Abfahrt eingehen und bannte die Gefahr, durch Fahrfehler anderer zu stürzen.
Pogacars neue Herangehensweise war das Resultat von Umstellungen im Training. In der Vorbereitung auf das Double aus Giro-Sieg und Tour-de-France-Triumph arbeitete der Slowene vor allem an seiner Widerstandskraft bei langen Anstiegen. Darunter litt seine Explosivität, wie der letzte Platz im Dreiersprint der 1. Etappe belegte. Womöglich traute er seinem Bergzug auch nicht genug Kraft für die letzten Abschnitte zu und riss deshalb oft bereits früher aus. Der Erfolg gibt ihm recht.
Neue Giro-Massstäbe setzt Pogacar nichtDie Verbeugung bei seinem sechsten Etappensieg galt vielleicht auch dem Giro d’Italia an sich und dessen reicher Geschichte an Rekorden. Pogacar wird ebenfalls in die Annalen eingehen, für neue Bestwerte reichte es aber nicht.
Der Italiener Gianni Bugno verbrachte 1990 etwa den kompletten Giro vom ersten bis zum letzten Tag in der Maglia rosa – Pogacar einen Tag weniger. Seine fast zehn Minuten Vorsprung vor dem Gesamtzweiten nehmen sich mickrig aus im Vergleich zu den fast zwei Stunden, die der Italiener Alfonso Calzolari 1914 seinen Rivalen abnahm. Nicht einmal bezüglich der Zahl gewonnener Etappen bei einem Giro setzte Pogacar neue Massstäbe. Hier liegt weiter der Italiener Alfredo Binda mit zwölf Siegen im Jahr 1927 vorne. Bindas schlechteste Platzierung war damals ein sechster Rang.
Das Beispiel Binda sollte den Slowenen zum Nachdenken bringen. Bindas Dominanz war so gross, dass ihn die Giro-Organisatoren 1930 von einem Startverzicht überzeugten. Die frustrierten Rivalen hatten mit Boykott gedroht, den Fans wurde es nach vier Gesamtsiegen in den vorhergehenden fünf Jahren und 33 Etappensiegen Bindas zu langweilig. Der Athlet wurde, wie Chronisten bemerkten, mit einer Geldsumme, die zum Kauf einer Villa reichte, abgefunden. Dieses Schicksal dürfte Pogacar nicht ereilen – trotz seiner erdrückenden Dominanz.