„Schwere Prüfung“: Pelicot bedankt sich für Unterstützung
„Schwere Prüfung“
Zusammengerechnet mehr als 400 Jahre Haft müssen die 51 Angeklagten im Vergewaltigungsprozess von Avignon nach Willen des Gerichts für den massenhaften Missbrauch von Gisele Pelicot absitzen. Die Höchststrafe von 20 Jahren gab es aber nur für Pelicots Ex-Mann. Familienangehörige Gisele Pelicots nannten das Urteil daher zu milde. Gisele Pelicot selbst, zu einer Ikone im Kampf gegen Gewalt an Frauen geworden, würdigte die „unbekannten Opfer“. Den Prozess nannte sie eine „schwere Prüfung“, und sie bedankte sich bei allen Unterstützerinnen und Unterstützern.
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Fast zehn Jahre lang hatte Dominique Pelicot seine damalige Frau immer wieder mit Medikamenten betäubt, missbraucht und Fremden zur Vergewaltigung angeboten. Insgesamt blieb das Gericht mit seinem Urteil deutlich unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft zurück.
Die 50 Mitangeklagten verurteilte das Gericht zu Haftstrafen zwischen drei und 15 Jahren, zumeist wegen Vergewaltigung, teils nur wegen sexueller Gewalt oder versuchter Vergewaltigung. Den von vielen erhofften Freispruch erteilte das Gericht keinem. Die Angeklagten hielten ihre Köpfe bei der Urteilsverkündung gesenkt, einer brach in Tränen aus, wie die wenigen zugelassenen Journalisten aus dem Gerichtssaal berichteten.
Vor dem Gebäude skandierten Aktivistinnen: „Schande über die Justiz!“ Pelicot sagte zum Strafmaß lediglich, dass sie das Urteil respektiere. Rechtskräftig ist das Urteil nicht, Berufung ist möglich.
„Sie sollen wissen, dass wir den gleichen Kampf führen“Pelicot widmete nach der Urteilsverkündung ihren Kampf allen „unbekannten Opfern“ von sexualisierter Gewalt. „Ich denke an die Opfer, die nicht bekannt sind und deren Geschichten oft im Dunkeln bleiben“, so die 72-Jährige. „Sie sollen wissen, dass wir den gleichen Kampf führen.“ Sie habe sich zu einem öffentlichen Prozess entschlossen, „damit die Gesellschaft die Debatten aufnimmt, die dort geführt werden“, sagte sie. „Ich habe diese Entscheidung nie bereut“, bekräftigte sie. Sie bereue nicht, den Prozess offen geführt zu haben.
Während des gesamten Prozesses demonstrierten Menschen vor dem Gericht für mehr Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen „Sehr mitgenommen“Der Prozess sei eine „sehr schwere Prüfung“ für sie gewesen. Sie sei „sehr mitgenommen“ und denke in erster Linie an ihre Kinder und Enkel. Gisele Pelicot bedankte sich bei allen, die sie unterstützt hatten: „Sie haben mir die Kraft gegeben, jeden Tag vor Gericht zu erscheinen“, sagte sie. Die am Donnerstag verkündeten Urteile akzeptiere sie.
Insgesamt konnten die Ermittler etwa 200 Vergewaltigungen der bewusstlosen Frau nachweisen. Die Ermittlerinnen und Ermittler gehen davon aus, dass noch ein Dutzend weitere Männer an den Taten, die Dominique Pelicot auf Hunderten Fotos und Videos festhielt, beteiligt waren. Identifiziert werden konnten sie aber nicht.
Der Ex-Mann hatte vor Gericht gestanden und sich als sexsüchtig und pervers bezeichnet. Er habe sich eine emanzipierte Frau unterwerfen wollen, gab er an. Als besonders gewalttätig sehe er, der die massenhafte Vergewaltigung seiner Frau orchestrierte und zu diesem Zwecke im Internet Bekanntschaften schloss, sich aber nicht.
Viele Angeklagte uneinsichtigDer Prozess um die Gräueltaten war geprägt von verächtlichen Aussagen und Uneinsichtigkeit – wenn etwa Angeklagte angaben: „Ich habe gegen meinen Willen vergewaltigt“, oder sich zu der entschuldigend gemeinten Aussage verstiegen: „Ich hatte einen Penis dort, wo das Gehirn hingehört.“ Viele erkannten zwar an, Gisele Pelicot ohne deren Einwilligung penetriert zu haben. Eine Vergewaltigung wollten etliche darin aber nicht sehen.
„Prozess der Feigheit“So ist es auch kaum verwunderlich, dass mehr als die Hälfte der Angeklagten über ihre Anwälte einen Freispruch gefordert hatten. Gisele Pelicot nannte das Verfahren den „Prozess der Feigheit“. Er sei für sie ein „schmerzhafter Weg“ gewesen.
Die Rechtssoziologin Irene Thery wies dazu auf den Begriff der „Opportunitätsvergewaltigung“ hin. Vergewaltigungen fänden häufig dann statt, wenn sich eine Möglichkeit dazu ergebe, sagte sie im Magazin „Le Nouvel Obs“. „Diese Opportunitätsvergewaltigung ist in einer noch immer tief verankerten chauvinistischen Sichtweise begleitet von einem Gefühl der Unschuld (‚Ich habe nicht vergewaltigt‘) und der Straffreiheit (‚Mir wird nichts geschehen‘).“
ORF-Korrespondentin Cornelia Primosch berichtete über die Urteilsverkündung im Prozess gegen Dominique Pelicot und weitere 50 Angeklagte und wie die Reaktionen auf das Urteil ausfielen.
Das Verfahren zeigt aber auch den Kampf einer Frau, die nicht für immer Opfer bleiben will. Anwalt Stephane Babonneau erzählte von Pelicots Scham darüber, eine vergewaltigte Frau, ein „ewiges Opfer“, ein Objekt des Mitleids geworden zu sein.
Um anderen missbrauchten Frauen Mut zu machen, entschied die Frau Anfang 70, den Prozess nicht hinter verschlossenen Türen zu führen. „Ich will, dass sie keine Schande mehr verspüren. Nicht wir sollten uns schämen, sondern sie“, sagte sie vor Gericht.
Wie groß die Aufmerksamkeit für ihr entschiedenes Auftreten sein würde, sah Pelicot, die längst als feministische Ikone gefeiert wird, nicht kommen. Sie ist mittlerweile auf der ganzen Welt bekannt. Beim Namen Pelicot denke man vor allem an sie, sagte sie vor Gericht. Sie wolle, dass ihre Kinder den Namen ohne Schande tragen könnten.
Gisele Pelicot, von Polizisten und Journalisten umringt, nach der Urteilsverkündung Prozess könnte Strafrecht verändernNoch vor dem Urteilsspruch hielten die Anwälte von Frau Pelicot in ihrem zutiefst politischen Plädoyer fest, dass Prozess und Urteil Teil des Testaments seien, das man an die kommenden Generationen übergebe. Und tatsächlich ist das Verfahren bereits jetzt historisch und könnte Frankreich mit Nachhall erschüttert haben.
Wegen der politischen Krise im Land herrscht zwar aktuell weitgehend Stillstand im Parlament, doch Änderungen im Strafrecht sind angeregt, um festzuschreiben, dass in sexuelle Handlungen explizit eingewilligt werden muss – auch wegen des Verfahrens in Avignon.
„Chemische Unterwerfung“ als ungelöstes ProblemDoch noch ist unklar, wie Frankreich künftig gegen das Problem der „chemischen Unterwerfung“, also der böswilligen Betäubung mit Medikamenten oder Drogen, vorgehen will. Dominique Pelicot besorgte sich nicht etwa über das Darknet Drogen, um seine Frau zu betäuben. Alle paar Monate kaufte er die Schlafmittel auf Rezept. Nebenklageanwalt Antoine Camus mahnte, seit Jahren sei das Problem bekannt, vor allem durch K.-o.-Tropfen in der Clubszene. Doch 99 Prozent der Opfer fehlten schlicht die Beweise.
„Ich habe heute Vertrauen in unsere Fähigkeit, gemeinsam eine Zukunft in die Hand zu nehmen, in der jeder, Frau und Mann, in Harmonie, mit Respekt und in gegenseitigem Verständnis leben kann“, sagte Gisele Pelicot sichtbar ergriffen nach den Schuldsprüchen.