Alexander Kluge über Oskar Negt: "Die Hierarchie war klar: Er sagte ...

3 Feb 2024
Oskar Negt

Nach langer, schwerer Krankheit ist gestern der Sozialphilosoph Oskar Negt im Alter von 89 Jahren verstorben. Der Publizist und Filmemacher Alexander Kluge gehörte zu den längsten Weggefährten von Negt, zusammen veröffentlichten sie mehrere Bücher. Im Gespräch erinnert sich Alexander Kluge an einen Freund und großen Denker.

ZEIT ONLINE: Alexander Kluge, Sie haben Oskar Negt einmal als ihren "älteren Bruder" bezeichnet. Dabei sind sie zwei Jahre älter als er. Wer war er für Sie?

Alexander Kluge: Man nennt in China einen Menschen, den man sehr achtet, einen "älteren Bruder". Spirituell ist er der Ältere von uns beiden. Bei unseren gemeinsamen Büchern stand Negt immer an erster Stelle, auch wenn im Alphabet K vor N kommt. Ich habe zu ihm aufgeschaut.

ZEIT ONLINE: Negt war eine zentrale Gestalt der Studentenproteste 1968: Studium bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Assistent von Jürgen Habermas in Frankfurt, dann Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Wie haben Sie sich kennengelernt?

Kluge: Ich bin noch ein Vor-68er. Wir Filmemacher saßen da und waren erstaunt und verblüfft. Ich war es nicht gewohnt, jede Woche Pamphlete zu schreiben oder politische Programme für die nächsten 800 Jahre zu entwickeln. Das war mir fremd. Nachdem der Studentenprotest 1968 seine Hochphase durchlaufen hatte, zerfiel der Sozialistische Deutsche Studentenbund, er war zerstritten und löste sich auf. Oskar Negt eröffnete damals einen Runden Tisch, wo alle Leute, die untereinander verzankt waren, noch einmal zusammenkamen. Das hat mir imponiert. Da haben wir uns kennengelernt. Wir haben dann 52 Jahre lang zusammengearbeitet. Ich hing sehr an diesem Gefährten. Wenn ich sage, dass Oskar Negt mein Bruderherz ist, dann meine ich das wörtlich.

ZEIT ONLINE: Es gab starke Auseinandersetzungen: Als Habermas 1967 vor einem "linken Faschismus" der APO warnte, der zu einer Gewalteskalation führen könnte, gehörte Negt zu seinen Kritikern. Er hat sich später dafür öffentlich entschuldigt. War die Sache damit vom Tisch?

Kluge: Negt war lebenslänglich loyal zu Habermas. Kritisch sein und loyal sein sind keine Gegensätze. Eine Mitte zu bilden, um die sich alle versammeln können, ist nicht ein Gegensatz zu Gründlichkeit, mit der man Dinge an der Wurzel fassen muss, wenn man radikal sein will. 

ZEIT ONLINE: Ihr erstes gemeinsames Buch, Öffentlichkeit und Erfahrung, erschien 1972. Was war Öffentlichkeit für Oskar Negt?

Kluge: Jeder Mensch macht Erfahrung. Aber ob diese Erfahrung mit Selbstbewusstsein verbunden ist oder ob sie einfach nur individuell, also robinsonistisch ist, hängt davon ab, ob man sie mit anderen austauscht. Wenn ich das, was ich denke und fühle, eichen kann an anderen Menschen, ist das Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit entsteht im Zeitalter der Aufklärung, zwischen 1933 und 1945 gibt es sie gar nicht. Und 1968 erobern diese Jungen sie noch einmal zurück. Nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 ist das eine zweite Republikgründung. 

ZEIT ONLINE: Negt dachte über den Wert der Arbeit und die menschliche Würde nach, über gewerkschaftliches Engagement und die Lebensform Demokratie. Er selbst stammte aus einfachen Verhältnissen, einer Familie von Bauern in Ostpreußen. Was war er für ein Denker? 

Kluge: Oskar Negt war kein Soziologe, aber auch kein Fachphilosoph. Er war Theoretiker. Ein theoros bezeichnet im alten Griechenland jemanden, der beim Besuch einer Stadtdelegation in der Fremde die Aufgabe hat, aufzupassen, ob die Fremden oder die Eigenen lügen. Er soll nicht verhandeln. Er soll nur aufpassen, dass niemand lügt. Das ist die Rolle des Mediators. Negt war also beides: Theoretiker und Mediator. Er war jemand, der Diskussionen wieder in die Wirklichkeit zurückführte, der Bodenhaftung herstellte. Er war ein Wirklichkeitshersteller.

ZEIT ONLINE: Negt hat sich philosophisch nicht nur mit Karl Marx, sondern auch mit Immanuel Kant auseinandergesetzt. Im vergangenen Jahr erschien sogar noch Ihr gemeinsames Buch – die Kant-Kommentare. Was macht den preußischen Großpedanten für Negt so radikal?

Kluge: Lassen Sie mich ein Beispiel geben: In seiner Schrift Was heißt: sich im Denken orientieren? von 1786 sagt Kant: Wir wissen, dass die Sonne im Osten aufgeht und im Westen wieder untergeht. Wenn wir dann noch Nord und Süd hinzufügen, haben wir die Grundlagen einer Orientierung im Raum. Von solchen einfachen Positionen entwickelt Kant etwas, das so eigensinnig ist, dass es frei sein muss. Wir sind einfach nicht geeignet, nicht von der Evolution ausgebildet worden, um zu gehorchen. Das nennt Kant den "zärtlichen Keim", den die Natur uns eingegeben hat. Und dieser zärtliche Keim führt zur Vernunft. Von hier aus geht es bei Kant bis zum ewigen Frieden und den Menschenrechten und bei Oskar Negt bis zur Erlösung der Gesellschaft, wie Marx sie beabsichtigte und wie sie im Staatssozialismus verfremdet wurde.

ZEIT ONLINE: Aufklärung bedeutet unentwegte Anstrengung. War Arbeit deshalb so wichtig für Negt?

Kluge: Es gibt einen Bauern in uns. Und es gibt seit den Tagen von Babylon auch einen Städter in uns. Und dann gibt es noch die Hand, das Fingerspitzengefühl. Oskar Negt hat einmal eine Geschichte erzählt, die typisch für seine Denkungsart ist: Da sitzen ein Chinese und ein Mann aus dem Ruhrgebiet zusammen, und der eine versteht die Sprache des anderen nicht. Aber der eine fängt an, an einer Schraube zu schrauben. Und plötzlich verständigen sie sich. Eine Schraube verbindet den Fernen Osten und das Ruhrgebiet. Das Schrauben einer Schraube ist genauso wichtig wie das Denken selbst. Der Tastsinn denkt – und ist manchmal klüger als der Kopf. Oskar Negt war ein sehr praktisch denkender Mensch. Auch das verbindet ihn mit Kant.

ZEIT ONLINE: Zwischen philosophischem Bauerntum und Städtertum hätte sich Negt für Traktoren entschieden? 

Kluge: Man kann kein Theoretiker sein, ohne Städter zu sein. Aber das Agrarische ist die Grundform. Das sind die 6.000 Jahre in uns. Und dann kommen 400 Jahre, und die sind städtisch.

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