Oscar Pistorius wird aus der Haft entlassen – und abgeschirmt
Oscar Pistorius wird aus der Haft entlassen – Südafrika erlebt den zweiten Teil eines nationalen Traumas
Der Prothesenläufer schaffte es an die Olympischen Spiele 2012 und erinnerte in schwierigen Zeiten an die Ideale der Regenbogennation. Nachdem er seine Freundin erschossen hatte, stand er plötzlich für die Abgründe Südafrikas.
Charlie Shoemaker / Getty
Das letzte Zeitzeugnis einer sportlichen Betätigung von Oscar Pistorius ist ein wackliges Handyvideo. Es stammt aus dem Jahr 2015, aufgenommen offenbar von einem anderen Häftling. Zu sehen ist der ehemalige Paralympics- und Olympia-Star, wie er im Innenhof eines Gefängnisses in Südafrikas Hauptstadt Pretoria mit dem ebenfalls verurteilten Mafiaboss Radovan Krejcir mit seinen Prothesen einen Fussball kickt.
Der Aufschrei war gross. Pistorius, einst einer der grössten Helden der für Pathos anfälligen Nation, war wenige Monate zuvor wegen tödlicher Schüsse auf seine Freundin Reeva Steenkamp zunächst nur wegen fahrlässiger Tötung verurteilt worden. Der entspannte Kick passte zum Prominentenbonus, der Pistorius damals allenthalben unterstellt wurde.
Prompt organisierten die Gefängnisbehörden eine Tour für die Medien, gezeigt wurde auch die karge Zelle, in der Pistorius vorübergehend untergebracht gewesen war. Bald darauf wurde das Urteil auf Totschlag und das Strafmass auf über 13 Jahre korrigiert.
Pistorius will seine Freundin für einen Einbrecher gehalten haben – und erschoss sieNun soll Pistorius, 37, am Freitag vorzeitig auf Bewährung aus der Haft entlassen werden. Fast elf Jahre sind vergangen seit dem Verbrechen, das sich so sehr ins kollektive Gedächtnis der Nation gebrannt hat wie sonst wohl nur die politisch motivierten Morde an Steve Biko (1977) und Chris Hani (1993), beides Idole des Befreiungskampfes. Pistorius hatte in einem live im Fernsehen übertragenen Prozess ausgesagt, er habe Steenkamp für einen Einbrecher gehalten und deshalb auf die geschlossene Toilettentür geschossen, hinter der sich seine Partnerin befunden hatte.
Youtube
Verzweifelt versuchen die südafrikanischen Behörden, eine Wiederholung des damaligen medialen Spektakels zu verhindern, das die über drei Jahre anhaltende Justizschlacht begleitet hatte. Pistorius’ Entlassung soll unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. «Er wird wie andere, die auf Bewährung freigelassen werden, nach Hause gebracht, und wir geben dazu keine Details bekannt», teilte ein Sprecher der Gefängnisbehörden auf Anfrage mit.
Als Teil der Auflagen darf der gefallene Star das Anwesen seines Onkels, auf dem er voraussichtlich leben wird, nur zu bestimmten Zeiten verlassen. Auch der Konsum von Alkohol ist ihm untersagt, die Teilnahmen an einem Programm zur Vermeidung geschlechtsspezifischer Gewalt sowie an einer Therapie zur Bewältigung von Aggression sind Pflicht. Die südafrikanischen Boulevardmedien, davon ist auszugehen, werden nichts unversucht lassen, das alles detailliert zu dokumentieren.
Schon in den vergangenen Tagen berichteten die örtlichen Zeitungen ausführlich über die bevorstehende Freilassung. Erinnerungen wurden wach an den Prozess, der weit mehr war als eine reisserische Geschichte über den Aufstieg und Fall des ersten Leichtathleten, der es, 2012 in London, mit Prothesen an die Olympischen Spiele geschafft hatte. Damals wurde Pistorius so lukrativ wie kaum ein anderer in Südafrika vermarktet.
Die Südafrikaner sind sich einiges gewohnt – doch dieses Verbrechen wühlte das Land aufDie detaillierte Aufarbeitung des Verbrechens und die vom Schmerz zerfurchten Gesichter von Steenkamps Angehörigen erschreckten selbst die Südafrikaner, die Realitäten wie jüngst 27 000 Morde jährlich sonst ein Stück weit verdrängen. Und die sich gegen diese allgegenwärtige Gefahr mit privaten Sicherheitsdiensten, Alarmanlagen oder manchmal auch – wie Pistorius – eigenen Waffen irgendwie abzuschirmen versuchen. Zumindest die, die es sich leisten können.
Youtube
Paul Gilham / Getty
Der Fall warf ein Schlaglicht auf die enormen Einkommensunterschiede, das fast beispiellose Ausmass der Gewalt gegen Frauen und die Unzulänglichkeiten der Justiz, die sich immer wieder den Vorwurf anhören muss, sich von den Anwälten gutbetuchter Angeklagter aushebeln zu lassen.
Und fast unvermeidbar spielte auch Pistorius’ weisse Hautfarbe eine Rolle. Zeitungen wie der britische «Guardian» stellten die Frage, wie der Fall wohl gehandhabt worden wäre, wäre der Angeklagte schwarz gewesen. «Die einfache Auffassung war, dass weisser Reichtum gleichbedeutend mit dem Zugang zu höherer Gerechtigkeit ist», schrieb die Zeitung während des Prozesses.
Fast in Vergessenheit geriet, dass der Nation eines ihrer populärsten Sportmärchen abhandengekommen war. Das mag angesichts der dramatischen Umstände banal klingen, doch der Sport war in Südafrika schon immer mehr als eine Nebensache. Während der Apartheid traf der Ausschluss der südafrikanischen Nationalteams von internationalen Sportturnieren so manchen weissen Buren härter als die Wirtschaftssanktionen.
Und der Widerstand gegen das weisse Minderheitsregime formierte sich wiederum am Rande von Fussballspielen in den Townships. Neben den Kirchen gehörten die Stadien zu den wenigen Orten, an denen Massenversammlungen genehmigt wurden.
Mit der Einführung der Demokratie versuchte Südafrika, über den Sport zusammenzuwachsen. Als das Land 1995 die WM im Rugby, dem populärsten Sport der weissen Minderheit, ausrichtete und auch noch gewann, überreichte Nelson Mandela dem burischen Rugby-Captain Francois Pienaar den Pokal. Die Nation feierte vereint. Südafrika wurde auch Gastgeber des Afrika-Cups im Fussball und der WM im Cricket – und schliesslich der Fussball-WM 2010.
One of the most symbolic moments in South African history.
???????? #OnThisDay in 1995, Nelson Mandela presented Francois Pienaar with Webb Ellis Cup after the Springboks beat New Zealand to win the Rugby World Cup.#RWC1995 pic.twitter.com/k1dmU2HXIF
Doch in den Jahren danach blieb das Land in seinen identitätsstiftenden Sportarten grösstenteils erfolglos und versank im Sumpf der Korruption des damaligen Präsidenten Jacob Zuma. Die Geschichte von einem wie Pistorius, der als Sportler gegen alle Widerstände und Wahrscheinlichkeit triumphierte, war eine dringend nötige Erinnerung an die schon immer utopisch anmutenden Ideale der Regenbogennation. Sie hatte wie er einst alle Widerstände überwunden.
Pistorius darf bis ins Jahr 2029 keine Interviews gebenIm vergangenen Jahrzehnt aber stand Pistorius als Totschläger plötzlich für die düsteren Seiten Südafrikas. Die Behörden wollen verhindern, dass sie über die Berichterstattung in den kommenden Tagen wieder im grossen Stil ausgeleuchtet werden. Seit November, als die Aussetzung von Pistorius’ Reststrafe zur Bewährung bekannt wurde, dürften lukrative Interviewanfragen bei seiner Familie eingegangen sein – dem Vernehmen nach zeigten sich besonders britische Fernsehsender in dieser Angelegenheit emsig.
Doch diese Angebote darf Pistorius zumindest bis zum Ende seiner Bewährungsstrafe Ende 2029 nicht annehmen. Die Auflagen schliessen Interviews kategorisch aus.