Wie der Wiederaufbau der Notre-Dame Frankreich beflügelt
Frankreich fiebert der Auferstehung von Notre-Dame entgegen
Fünf Jahre nach dem Vollbrand der Kathedrale neigt sich ihre Renovierung dem Ende zu, eben wurde ihr neuer Spitzturm enthüllt. Während Frankreichs Präsident Macron den rekordschnellen Wiederaufbau zur Selbstinszenierung nutzt, sagt der Erzpriester der Kathedrale: «Das Böse hat nicht gewonnen.»
Zahlreiche Schaulustige tummeln sich an diesem Nachmittag Mitte Februar am Ufer der Seine und schauen gespannt auf einen riesigen Baukran. Dieser entfernt den obersten Teil des Baugerüsts rund um die Spitze des Vierungsturms der Kathedrale Notre-Dame und lässt es langsam auf den Boden hinab. Oben, in 96 Metern Höhe, heben sich nun das Kreuz und der goldene Hahn glänzend vom blauen Himmel ab. Der am 15. April 2019 durch den Brand zerstörte Spitzturm steht wieder und überragt stolz die Dächer von Paris.
Fast so, wie es der Staatspräsident damals versprochen hatte: «Im Laufe unserer Geschichte haben wir Städte, Häfen und Kirchen gebaut. Viele sind abgebrannt oder wurden durch Kriege, Revolutionen oder die Fehler von Menschen zerstört. Jedes Mal haben wir sie wieder aufgebaut», sagte Emmanuel Macron einen Tag nach dem Brand der Kathedrale, in einer Ansprache an das Volk. «Wir werden auch die Notre-Dame wiederaufbauen, noch schöner als vorher, und ich will, dass sie in den nächsten fünf Jahren fertiggestellt wird.»
Macron wusste: Frankreichs Bevölkerung befand sich erneut im Schockzustand, nach den terroristischen Anschlägen von 2015 und den anhaltenden Ausschreitungen der Gelbwesten 2018, als die Hilflosigkeit der Behörden die politische Macht geschwächt und die Gesellschaft beunruhigt zurückgelassen hatte.
Zudem war sein ambitiöses Versprechen ein Versuch, zu erwirken, dass von seiner bisher eher als glanzlos betrachteten Präsidentschaft doch noch etwas von Substanz übrigbleiben würde. Der französische Journalist Didier Rykner erklärt, in Frankreich brauchten Präsidenten Prestigeprojekte: «Macron will als derjenige in die Geschichte treten, der die Notre-Dame gerettet hat.»
Wie kommt es, dass in einem so laizistischen Land – in Frankreich sind Kirche und Staat seit 1905 strikt getrennt – ausgerechnet der Brand eines Gotteshauses die patriotische Seele trifft? «Der Katholizismus ist in Frankreich immer noch präsent», sagt der auf Kunst spezialisierte Journalist. Vor allem aber sei die Notre-Dame nicht nur ein religiöses Symbol, sondern ein Kulturgut, als wichtiges Zeichen der französischen Geschichte. So krönte sich hier Napoleon 1804 selbst zum Kaiser; im August 1944 verkündete ihr Glockenläuten die Befreiung von Paris von der deutschen Besetzung.
«Obwohl es auf der Welt unzählige Kirchen mit diesem Namen gibt, weiss beim Wort Notre-Dame jede Person sofort, dass die Kathedrale in Paris gemeint ist», so Rykner. Womöglich kam für Macron der Einsatz für dieses Nationalsymbol auch angesichts des Drucks der konservativen Rechten gerade richtig.
Wie Victor Hugo die Kathedrale vor dem Verfall retteteBekannt wurde die im Mittelalter gebaute und 1345 fertiggestellte Kathedrale insbesondere durch den französischen Schriftsteller Victor Hugo. Seinen 1831 erschienenen Roman «Der Glöckner von Notre-Dame» hatte er eigens dafür geschrieben, sie vor dem drohenden Verfall zu retten und sich für Restaurierungsarbeiten einzusetzen – so miserabel war ihr damaliger Zustand. Die Rettungsaktion gelang, wenn auch nicht ganz in seinem Sinne: Eugène Viollet-le-Duc begann in den 1840er Jahren, die Notre-Dame sorgfältig zu restaurieren – allerdings mit einschneidenden Neuerungen, sehr zum Missfallen von Hugo.
Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: Wie bereits zur Zeit von Victor Hugo war die Notre-Dame auch über die letzten Jahrzehnte sträflich vernachlässigt worden. Zu diesem Schluss kommt Didier Rykner. Er publizierte 2023 das Buch «Notre-Dame – une affaire d’État» (Notre-Dame – eine Staatsaffäre). Darin setzt er sich vor allem mit der Frage nach der Verantwortung für den Brand auseinander.
Offiziell geht die Polizei von einem Kurzschluss aus. Für Rykner ist klar: Die wahre Ursache sind Mängel in der Instandhaltung sowie in den Sicherheitsvorkehrungen. Auf diese Mängel hatte bereits ein Bericht der Universität Versailles von 2016 hingewiesen. In seinem Buch zeigt Rykner auf, dass das Sicherheitsprotokoll an jenem April-Abend nicht ansatzweise eingehalten worden sei. Verantwortlich dafür sei der Staat – die Notre-Dame befindet sich in Staatsbesitz.
Fast alle vor 1905 gebauten Kirchen in Frankreich sind im Besitz der öffentlichen Hand, da die katholische Kirche nach der Trennung von Kirche und Staat die Gotteshäuser nicht übernehmen wollte. Sie darf sie aber kostenlos nutzen. In den Gemeinden und beim Staat werde das Geld derweil lieber anderweitig eingesetzt als für marode Kirchen.
«Maman, die Notre-Dame brennt!»Odile de Magnitot erinnert sich gut an den 15. April 2019. Sie war zu Hause in ihrer Stadtwohnung, unweit der Kathedrale, als ihre Tochter anrief: «Maman, die Notre-Dame brennt!» De Magnitot erzählt: «Durch das Fenster sah ich gelben Rauch. Ich rannte nach draussen und hörte bald schon das Knacken der Holzbalken im Dachgewölbe.»
Sie wurde mit ihrer Familie aus der Wohnung evakuiert. Die 64-Jährige kennt die Kathedrale gut, nicht nur geht sie regelmässig in den Gottesdienst, seit zehn Jahren führt sie zudem als Freiwillige des Vereins Casa Besuchende durch das Pariser Wahrzeichen – mit rund 13 Millionen besuchen fast doppelt so viele Touristen die Notre-Dame als den Eiffelturm.
Die Konsequenzen des Grossbrandes hätten noch weitaus verheerender sein können. Die Kirchtürme blieben verschont, die Gemälde und Reliquien – darunter die berühmte Dornenkrone Christi – wurden schnell in Sicherheit gebracht. Dennoch: Die Schäden würden Hunderte Millionen kosten.
Der Kirchenschatz mit den Reliquien wurde rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Darunter befindet sich auch der Dornenkranz, den Jesus bei seiner Kreuzigung getragen haben soll.
Macron war nicht der Einzige, der die Gunst der Stunde nutzte. Noch während die Flammen an der Notre-Dame loderten, versprach der Luxusunternehmer François Pinault (Gucci, Saint Laurent, Balenciaga) 100 Millionen Euro für den Wiederaufbau der Kathedrale. Sein Rivale Bernard Arnault (Louis Vuitton, Moët Hennessy) doppelte mit 200 Millionen nach. Da durfte auch die Milliardärsfamilie Bettencourt-Meyers (L’Oréal) nicht fehlen: Sie versprach ebenfalls 200 Millionen.
Paris wäre nicht Paris, hätte nicht auch diese Philanthropie für Polemik gesorgt: Für ein altes Gebäude werde das Portemonnaie gezückt, hiess es, obwohl dies Staatsaufgabe wäre; für andere Anliegen aber fehle das Geld!
Rummelplatz KathedralenbaustelleZwei Strassen von der Notre-Dame entfernt empfängt der 60-jährige Olivier Ribadeau Dumas in einem kleinen Innenhof, der zu seinem Büro führt. Er ist seit 2022 Erzpriester und Rektor von Notre-Dame. Ihn verbindet viel mit der Kathedrale: «Mit 33 Jahren wurde ich in der Notre-Dame zum Priester geweiht.» Der Brand habe viele Emotionen in ihm ausgelöst. Zuerst die Angst, die Kirche könnte verschwinden. Dann die grosse Erleichterung. «Jetzt will ich nach vorne schauen und das Positive sehen: die grosse Solidarität, die vielen Spenden.»
Ribadeau Dumas koordiniert die Wiedereröffnung, ist quasi das Bindeglied zwischen Kirche und Staat. Er spricht von der «Jahrhundertbaustelle». Im Schnitt sind pro Tag 300 Arbeiterinnen und Arbeiter vor Ort beschäftigt. «Was besonders berührt: Es sind einfache Handwerker, die die Kathedrale mit denselben Instrumenten wie damals wiederaufbauen.»
Tatsächlich soll die Notre-Dame möglichst originalgetreu und mittels alter Techniken restauriert werden – von seinen ursprünglichen Ideen einer zeitgenössischen Umsetzung musste Macron nach heftiger Kritik absehen. Die Gelegenheit wird auch genutzt, um zusätzliche Restaurationsarbeiten vorzunehmen, was bei einem normalen Betrieb nicht möglich wäre. Figuren, Ornamente, Wände und Fenster werden nicht nur vom Russ der Brandkatastrophe befreit, sondern auch von jahrhundertealten Schmutzschichten. Ribadeau Dumas kann es kaum erwarten: «Wir werden die Notre-Dame sehen, wie sie noch kein Mensch zuvor gesehen hat.»
Auch Forschung zur Baugeschichte der Kathedrale wird betrieben, denn dank den Gerüsten können bisher unzugängliche Stellen untersucht werden. Selbst archäologische Ausgrabungen finden statt – der Einsturz des mehrere hundert Tonnen schweren Gewölbes hatte Teile des Fussbodens freigelegt, unter welchem sich Räume, Fundamente von Vorgängerbauten sowie Sarkophage aus Blei und Stein befinden.
Weiter sollen die Beleuchtung und die Akustik verbessert und die Kapellen sowie ein Teil des Kirchenschatzes besser zur Geltung gebracht werden. «Uns ist aber wichtig, dass die Notre-Dame nicht zum Museum verkommt. Sie soll ein Ort des Glaubens bleiben, der Eintritt wird weiterhin kostenlos sein, und die Plätze für Andachten, Reliquien und Kruzifixe werden beibehalten», sagt der Erzpriester.
Das Interesse an der Baustelle ist gross. Obwohl der Zugang zur Kathedrale abgesperrt ist, ist der Vorplatz jeden Tag gut besucht. Rund um die Kathedrale zeigen Infotafeln und Fotos die Restaurierungsarbeiten. Eine Zuschauertribüne wurde aufgebaut. Jeder weitere Teil der Kathedrale, der vom Baugerüst befreit wird, gerät fast zu einem Lokalereignis. Eine Ausstellung widmet sich den Arbeiterinnen und Arbeitern. Sogar einen offiziellen Facebook- und einen offiziellen Instagram-Account hat die Baustelle.
Wiedereröffnung am 8. Dezember 2024Dieses Jahr werden die versprochenen fünf Jahre um sein. Das eigentliche Ziel der Wiedereröffnung dürften die Olympischen Spiele diesen Sommer gewesen sein, so jedenfalls interpretierte die Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, die Ansage Macrons. Das ist nicht zu schaffen. Die Corona-Pandemie legte die Baustelle monatelang lahm, auch nahm allein die Stabilisierung des Bauwerks zwei Jahre in Anspruch. Immerhin: Noch 2024, am 8. Dezember, soll die Notre-Dame ihre Tore wieder öffnen. Es ist ein symbolisches Datum: der Feiertag Mariä Empfängnis und somit auch das Fest der Kirchenpatronin.
Fertig restauriert wird die Kathedrale Ende Jahr jedoch noch nicht sein. Der Kölner Dombaumeister Peter Füssenich hatte nach dem Brand gesagt, er rechne mit einem jahrzehntelangen Wiederaufbau. «Die Notre-Dame wird zwar offen sein, aber die Bauarbeiten werden weitergeführt werden», sagt auch Rykner. Für ihn bedeute die überstürzte Eröffnung eine verpasste Chance: «Gerade für die archäologischen Ausgrabungen wäre mehr Zeit nötig.» Die Touristenführerin Odile de Magnitot schaut diesem Tag skeptisch entgegen: «Ich bin nervös. Ich frage mich, wie die Notre-Dame die Menschenmassen aufnehmen kann, die kommen werden. Und ob wir unsere Führungen fortsetzen können.»
Erzpriester Olivier Ribadeau Dumas sieht dies anders: «Die Wiedereröffnung ist mehr als nur ein politisches Symbol, sie zeigt die Resilienz der Gesellschaft, und sie ist ein Zeichen der Hoffnung in einer Welt, in welcher viele hoffnungslos sind. Der Wiederaufbau der Notre-Dame heisst auch: Das Böse hat nicht gewonnen.»
Auch Macron scheint sich nicht daran zu stören, dass die Kathedrale nicht vollends restauriert sein wird. Ihm geht es vor allem um die Inszenierung: Schon ein Jahr vor der Wiedereröffnung lächelte er mit Helm auf dem Kopf vom Baugerüst – und suchte sich dafür den Platz aus, der ihm würdig schien: zuoberst bei der Turmspitze, auf 96 Metern über Paris, fast schon im Himmel.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»