Einmal mehr wurde bei der liberalen Partei frenetisch gejubelt, einmal mehr aber blieben einige Erwartungen unerfüllt. Mit dem zweiten Mandat erreichen die Pinken ihr Minimalziel. Bundesweit ist man mit Stand der ORF-Hochrechnung um 23 Uhr zudem erstmals zweistellig.
Die Nervosität am Wiener Heumarkt war am Wahlsonntag spürbar, bis kurz vor der ersten Trendprognose galt es, die Erwartungshaltung so tief wie möglich zu halten. Das sollte sich angesichts der ersten Trends als richtige Strategie herausstellen, der Jubel im Anschluss fiel umso frenetischer aus. In der ersten Trendprognosen um 17 Uhr lag die Partei unter Spitzenkandidat Helmut Brandstätter bei 10,5 Prozent und damit gleichauf mit den Grünen, die weniger verlieren dürften als befürchtet.
Als Brandstätter und Parteichefin Beate Meinl-Reisinger gegen 17.30 Uhr bejubelt in der Parteizentrale erschienen, lieferte sie sogleich eine eigene Definition der Gen Z: „Wir sind die Generation zweistellig!“. Dieses Versprechen aber bröckelte im Verlauf des Abends zwischenzeitlich. Am Ende wies die ORF-Hochrechnung die Pinken bei 10,1 Prozent aus. Fix ist das aber erst mit der Auszählung aller Wahlkarten am Montag.
Brandstätter bedankte sich bei seiner Familie und bei den Parteikollegen: „Ich musste mich bewähren, aber wer sich bei den Neos bewährt, tut das auch bei den Wählern“, sagte er auf der Bühne in dem dicht gedrängten Raum, in dem die pinken Fans mit kleinen Europafähnchen wachelten. „Wir haben das als Team gemacht. Und morgen geht’s nach Brüssel!“. Die 30-jährige Anna Stürgkh, ehemalige Junos-Bundesvorsitzende und Bezirksrätin in Wien-Wieden, erhält den zweiten Neos-Sitz.
»Ich musste mich bewähren, aber wer das bei den Neos tut, tut das auch bei den Wählern.«
Harald BrandstätterNeos-Spitzenkandidat
Auch dieser Jubel hat MakelDennoch hat der pinke Jubel auch an diesem Wahlsonntag kleine Makel. Denn einmal mehr hätte man sich in den pinken Wahlbüros angesichts der Umfragen mehr erhoffen dürfen. Alles, was die Grünen in den Umfragen zuletzt liegen ließen, schienen die Neos einstreifen zu können: Bis zu 14 Prozent wiesen sie kurz vor dem Wahlsonntag den Liberalen aus – und damit ein Plus von rund fünf Prozentpunkten im Vergleich zu 2019 (8,44 Prozent). Im Gespräch mit der „Presse“ kurz nach dem ersten Trend verwies Wiens Vizebürgermeister Wiederkehr auf die Ausgangslage Anfang des Jahres: „Wir sind mit sieben Prozent in dieses Wahljahr gestartet. Heute gibt es zwei Gewinner. Die FPÖ und uns. Wir sind zum ersten Mal zweistellig und mehr als zufrieden.“
Nach den Wahlschlappen in Kärnten, Salzburg Stadt und Innsbruck herrschte intern tatsächlich große Unsicherheit. Dass sich diese nicht in offenen Obfrau-Debatten äußerten, spricht für den Grad an Professionalität, die die Neos auch in diesem, laut Meinl-Resisinger „fulminanten“ Wahlkampf, bewiesen haben. Dennoch stellt sich erneut die Frage, wo das Wählerpotenzial liegt, das noch nicht ausgeschöpft wurde.
Unter bildungsaffinen, urbanen Wählern, denen Europa und der Klimaschutz vor allem wichtig ist, war man mit schweren Vorwürfen gegen die grüne Spitzenkandidatin konfrontiert. Dort profitierten die Neos von der Wechselstimmung. Auf der anderen Seite aber dürfte das einmal mehr nicht ganz geglückt sein: Von der Schwäche der ÖVP profitierten die Neos offenbar weniger als erhofft.