Niemand kann über zweistellige Verluste so begeistert jubeln wie die ÖVP. Das hat sie am Abend der Europawahl im Juni bewiesen. Jetzt aber, an diesem denkwürdigen 29. September fiel der Applaus im Festzelt vor der ÖVP-Zentrale verhalten aus. Alle Ministerinnen und Minister marschierten mit ernsten Mienen ein, um zumindest Zusammenhalt zu signalisieren. Denn das Ergebnis war dramatisch: Der größte Verlust der Parteigeschichte, über minus 11 Prozentpunkte. Platz 1 verspielt. Der Abstand zur FPÖ deutlicher als befürchtet. Hängende Köpfe angesichts einer bitteren Niederlage. Nur als auf der Leinwand die Verluste des ungeliebten Grünen Regierungspartners eingeblendet wurden, gab es Klatschen – wenn auch höhnisches.

Nehammer - Figure 1
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„Es ist kein Geheimnis, dass wir Platz 1 erreichen wollten. Es hat leider nicht gereicht“, tönte ÖVP-Generalsekretar Christian Stocker. Und ÖVP-Obmann und Kanzler Karl Nehammer meinte ähnlich enttäuscht wenig später: „Es war eine Aufholjagd, aber zu wenig.“

Nur ein Resultat des Wahlabends tröstete die machtbewusste ÖVP ein wenig: Sie hat durchaus Chancen, weiter zu regieren – ob mit der SPÖ und einem dritten Partner. Oder doch mit der FPÖ, wenn auch in der ungeliebten Position des Juniorpartners. Im Wahlkampf hatte die ÖVP eine Koalition mit FPÖ-Chef Herbert Kickl immer ausgeschlossen und das am Wahlabend wiederholt, eine Zusammenarbeit mit der FPÖ aber offen gelassen. „Bei dem Ergebnis werden wir den Kickl nicht wegbekommen“, seufzte ein Minister.

„Der Vergleich macht sicher“ hatte die ÖVP im Wahlkampffinale plakatiert und ganz auf das Kanzler-Match zwischen Amtsinhaber Karl Nehammer und Herausforderer Herbert Kickl gesetzt. Hinter der Strategie stand die Überzeugung, dass die FPÖ zwar viele Protest- und Zorn-Stimmen einsammeln, in der K-Frage um die Kanzlerschaft aber weniger punkten könne als Nehammer. Eine durchaus riskante Strategie, denn so etwas wie einen Kanzlerbonus konnte Nehammer kaum entwickeln. Im Gegenteil: Der Zorn über die ÖVP und die Regierung hatte sich über Jahre aufgestaut.

Vom rauschenden Wahlsieg ins Jammertal

Der damals charismatische Popstar Sebastian Kurz hatte nach dem Ibiza-Skandal der ÖVP bei der Wahl 2019 einen rauschenden Wahlsieg beschert (und später Korruptionsermittlungen und Chats-Affären). Dann aber war es für die ÖVP jahrelang bergab gegangen, bis in tiefe Jammertäler. Im Dezember 2021 ging Sebastian Kurz im Strudel der Korruptionsvorwürfe unter und hinterließ einen türkisen Scherbenhaufen: Chats, Ermittlungen gegen die ÖVP, U-Ausschüsse. Karl Nehammer wurde im Corona-Lockdown angelobt, unter Zwischenzeit-Kanzler Alexander Schallenberg war gerade die Impfpflicht beschlossen worden. Und die schwarz-grüne Regierung wurde von einer Krise nach der anderen überrollt: Ukraine-Krieg. Energiekrise. Leere Gasspeicher. Rekordteuerung. Wirtschaftsflaute. 

Das zeigte deutliche Konsequenzen: Die ÖVP-Grüne-Koalition war so unbeliebt wie keine Regierung je vor ihr. Und alle Regierenden bekamen den Malus zu spüren: Bei Landtagswahlen fuhren Landeshauptleute von ÖVP und SPÖ seit zwei Jahren schwere Niederlagen ein – die FPÖ hingegen Kantersiege. Kickls Partei segelte in Umfragen auf Platz-1-Kurs. Bis die Freiheitlichen bei der Europawahl im Juni erstmals bei einer bundesweiten Wahl stärkste Partei wurden.

„Es ist gelungen, die ÖVP zurückzubringen“, gab Nehammer die Parole aus, gegenüber dem Jammertal aufgeholt zu haben. Der 51jährige Nehammer ist Boxer, 1,90 Meter groß, 100 Kilo schwer, er bewies Steherqualitäten und kämpfte. Besonders seit der Hochwasser-Katastrophe: In diesen Tagen, als ganz Niederösterreich zum Katastrophengebiet erklärt wurde, zeigte sich Nehammer als Krisenmanager, Macher und Organisator von Hilfszahlungen. Da zeigte der ÖVP-Obmann Statur. Die Krisen-Bühnen gehörten ihm als Regierungschef, andere Kandidaten und andere Themen spielte tagelang kaum eine Rolle. Der Wahlkampf machte Pause – außer für Nehammer. Das hielt in der ÖVP bis zum Wahltag die Hoffnung hoch, den Abstand zur FPÖ doch gering ausfallen zu lassen – oder die Freiheitlichen gar zu überholen. Vergeblich. Das Thema Hochwasser spielte laut Nachwahlbefragungen kaum eine Rolle.

Davor hatte die Europawahl die ÖVP Mut schöpfen lassen, weil die FPÖ nicht so deutlich gewonnen hatte wie prognostiziert. Dieser Motivationsschub Europawahl ließ die ÖVP noch einmal Aufwind vermuten. Umso ernüchternder die deutliche Niederlage.

Querkopf Hörl murrt

Manch Murren wurde deswegen schon am Wahlabend im ÖVP-Wahlzelt laut: „Wir können nicht einfach weitermachen. Der Wahlkampf war etwa in der ÖVP-Tirol nicht existent. Wir haben in Tirol mit der Nationalratswahl, der Innsbrucker Wahl und der Tiroler Landtagswahl drei schwere Niederlagen in Folge eingefahren. Wir müssen diese Niederlagen endlich aufarbeiten“, tönte etwa der ewige Querredner und Seilbahn-Lobbyist Franz Hörl. Er blieb eine Einzelstimme – sonst stellte sich die ÖVP hinter ihren Obmann.

Noch am Wahlabend begannen in der ÖVP die Beratungen für die Zeit danach: Regieren mit der schwer geschlagenen SPÖ, wer immer dort das Sagen haben wird, und einem dritten Partner, wohl den Neos? Diese Variante hat ihre Anhänger, vor allem weil die ÖVP von Parteichef Nehammer abwärts eine Regierung mit Herbert Kickl am Wahlabend erneut ausschloss, wie schon den ganzen Wahlkampf über. Allerdings gibt es auch Skeptiker, ein gewichtiger ÖVP-Funktionär formuliert am Wahlabend: „Das werden zähe Verhandlungen, wir liegen inhaltlich weit auseinander.“ Ganz sicher ist: Landeshauptleute und Bünde reden bei der Entscheidung mit, welche Richtung die ÖVP einschlägt. Unter Kurz waren sie entmachtet, unter Nehammer kam ihre Macht zurück. Das dankte die Partei am Wahlabend ihrem Obmann mit Solidarität.

Und gab die Parole aus: Die Wahl ist verloren. Aber vielleicht kann die ÖVP das Kanzleramt retten – und eine Koalition mit Nehammer als Kanzler verhandeln.

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin