Alexei Nawalny: Hinweise erhärten Vergiftung als Todesursache

Alexei Nawalny wurde im Straflager vergiftet – das sollen neu aufgetauchte Dokumente belegen

Die offizielle Erklärung zum Tod des russischen Oppositionspolitikers hatte von Anfang an viele Zweifel geweckt. Jetzt gibt es neue Hinweise zu dessen letzten Lebensminuten.

Nawalny Tod - Figure 1
Foto Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Einen Monat vor seinem Tod wird Alexei Nawalny aus der Strafkolonie in Sibirien zu einer Anhörung im Obersten Gericht per Video zugeschaltet.

Maxim Shemetov / Reuters

«Alexei Nawalny ist in der Strafkolonie gestorben.» Hinter dem nüchternen Satz, der am vergangenen 16. Februar in Eilmeldungen vom Tod des wichtigsten russischen Oppositionspolitikers kündete, verbarg sich von Anfang an das Rätsel um das plötzliche Ableben von Präsident Wladimir Putins Intimfeind. Am Tag zuvor war Nawalny noch über Video mit einem Gerichtssaal verbunden gewesen und hatte mit dem Richter gescherzt. Anzeichen einer gesundheitlichen Verschlechterung gab es nicht.

Propagandisten brachten als Todesursache ein Blutgerinnsel in Umlauf. «Herzversagen nach einem Kreislaufkollaps» wurde zur offiziellen Version. Für Nawalnys Mitstreiter und Anhänger bestand nie ein Zweifel daran, dass ihr Freund, Mentor und Vorbild umgebracht worden war – direkt oder indirekt, denn allein die vom Strafvollzug bewusst herbeigeführten Haftbedingungen verlangten ihm kaum Erträgliches ab.

Plötzlich starke Bauchschmerzen

Nun ist das exilrussische Recherche-Portal «The Insider» in den Besitz von Dokumenten gelangt, die bestätigen sollen, dass Nawalny in der Strafkolonie «Polarwolf» in der westsibirischen Siedlung Charp am Polarkreis getötet wurde. Den Journalisten liegen die Materialien aus den Ermittlungen zum Tod Nawalnys vor, und zwar in verschiedenen Versionen. Diese wurden von Alexander Warapajew unterschrieben, dem Ermittlungsbeamten, der Nawalnys nach Charp gereister Mutter tagelang die Herausgabe des Leichnams verweigerte und sie unter Druck setzte, um eine öffentliche Trauerfeier in Moskau für den Verstorbenen zu verhindern.

Warapajew hatte im Sommer Nawalnys Witwe Julia Nawalnaja mitgeteilt, es lägen keine Hinweise auf gewaltsame Einwirkungen vor. Nawalny sei nach Meinung der Ärzte nach einem Bluthochdruck-Schub an Herzrhythmusstörungen gestorben. Komplikationen aufgrund einer Vielzahl chronischer Krankheiten hätten dazu geführt. Schon damals hatte Julia Nawalnaja diese offizielle Darstellung zurückgewiesen. Nicht nur waren bei dem Gefangenen die aufgeführten gesundheitlichen Schwierigkeiten nicht diagnostiziert worden. Julia gab auch an, sie wisse, dass ihr Mann in den letzten Minuten seines Lebens über starke Schmerzen im Bauch geklagt habe.

Die von «The Insider» eingesehenen Berichte der Ermittlungsbehörden beschreiben in einer ersten Version, wie Nawalny auf dem Hofgang plötzlich starke Bauchschmerzen bekommen habe. Er sei in seine Zelle zurückgebracht worden, habe sich dort auf den Boden gelegt, erbrochen und sei von Krämpfen heimgesucht worden. Dann habe er das Bewusstsein verloren und sei in die Sanitätsabteilung gebracht worden, wo ärztliches Personal vergeblich versucht habe, ihn wiederzubeleben. Vom Erbrochenen und vom Essen seien für Untersuchungen Proben genommen worden.

Widerspruch zu den offiziellen Angaben

Diese Schilderung steht eindeutig im Widerspruch zu den später offiziell als Todesursache genannten Symptomen. Dies betont auch der Arzt Alexander Polupan, der 2020 zum russischen Ärzteteam gehört hatte, das Nawalny nach seiner Vergiftung durch den chemischen Kampfstoff Nowitschok in Omsk untersuchte. Polupan sagte den Journalisten von «The Insider», die Symptome deuteten auf eine Vergiftung durch die Einnahme eines Gifts aus der Kategorie der organischen Phosphorverbindungen, zu denen auch Nowitschok gehört.

Aus diesem Grund wurde die Darstellung offenbar auch aus der definitiven Version des Untersuchungsberichts entfernt, den die Hinterbliebenen im August bekamen. Nur so war es möglich, auf der Version eines natürlichen Todes zu beharren und von der Einleitung eines Strafverfahrens abzusehen. Unklar ist allerdings, weshalb es überhaupt dazu kam, dass auch die vermutlich ehrliche Schilderung von Nawalnys Tod in eine frühe Version der Ermittlungen Eingang fand. Die Ermittlungsbehörden hatten von Anfang an die Todesumstände zu verschleiern versucht und offenkundig kein Interesse daran gehabt, den Leichnam der Familie schnell zu übergeben.

Weitere Recherchen

«The Insider» ist eine seriöse Publikation mit grosser Erfahrung in der Recherche heikler geheimdienstlicher Informationen. Sie war federführend bei der Enttarnung der Todesschwadron des russischen Inlandgeheimdiensts (FSB), die die erste Vergiftung Nawalnys sowie die Giftanschläge auf Wladimir Kara-Mursa und andere Oppositionsfiguren verantwortete. Laut dem Chefredaktor Roman Dobrochotow gelangte «The Insider» an die Dokumente ohne Drittpersonen, die ein Interesse an der Manipulation der Unterlagen gehabt haben könnten.

Für Dobrochotow ist die Bestätigung von Nawalnys Tod durch Vergiftung nun praktisch gerichtsfest. Noch gelte es, die genauen Abläufe zu rekonstruieren und die daran Beteiligten ausfindig zu machen. Natürlich wird es auch weiterhin Zweifel an dieser Darstellung geben, verbunden mit Verschwörungstheorien darüber, wer der eigentliche Nutzniesser von Nawalnys Tod gewesen sein könnte. Alle andern fühlen sich in der Ungeheuerlichkeit bestätigt, dass das Regime seine Gegner auch dann noch zu töten bereit ist, wenn sie ihm am Polarkreis vollständig ausgeliefert sind.

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