Formel 1 in São Paulo: Max Verstappen gewinnt den GP in Brasilien
Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Fahrleistungen: Vom 17. Startplatz aus rast Max Verstappen in Sao Paulo zu seinem achten Saisonsieg, dem ersten seit Ende Juni. Ein Meisterstück, dass die Vorentscheidung im Titelrennen sein könnte. Denn Sprintsieger Lando Norris im McLaren versagen unter widrigen Bedingungen mehrfach die Nerven. Der Niederländer baut seinen Vorsprung von 44 auf 62 Punkte aus, damit könnte der Niederländer am letzten Novembersamstag in Las Vegas bei noch maximal zu holenden 86 Zählern bereits zum vierten Mal Weltmeister werden. Mit Esteban Ocon und Pierre Gasly nutzen zwei Alpine-Piloten die Gunst der Gischt, um abgeschlagen auf dem Podium zu landen. Mit einem Urschrei quittiert Verstappen seine Triumphfahrt: „Was für ein unglaubliches Rennen. Einfach wunderbar!“
Die romantische Ortsangabe Interlagos für das Autodromo Carlos Pace bedeutet übersetzt „zwischen den Seen“. An diesem viertletzten Grand-Prix-Wochenende des Jahres müsste es korrekter heißen: Zwischen den Schauern. Erst zum sechsten Mal in der Formel-1-Geschichte musste eine Qualifikation auf den Morgen des Rennsonntags verschoben werden. Der deutsche Rennleiter setzte die Startzeit für 7.30 Uhr an, um bei weiteren Wetterkapriolen möglichst viel Spielraum zu haben. So früh mussten die Formel-1-Piloten noch nie zu einem Wettkampf in ihre Autos steigen.
Die Frühschicht, die zwischenzeitlich einem Schwimmunterricht auf Rädern glich, war erwartet chaotisch. Fünf Crashs und mehrfache Abbrüche, die Titelverteidiger Max Verstappen zum Verhängnis wurden, der als Zwölfter früher als gedacht nach einer umstrittenen Entscheidung der Rennleitung ausgeschieden war. Dazu addierten sich noch fünf Strafplätze für einen Motorwechsel. Auch Verfolger Lando Norris wäre fast in der ersten Qualifying-Runde ausgeschieden, schaffte es mit McLaren aber am Ende doch noch auf seine siebte Pole-Position des Jahres. Für den Spitzenreiter wie für alle anderen galt für den Großen Preis von Sao Paulo nur vor allem eins: das Auto auf der Piste zu halten.
Für Norris, der mit einem Sieg im samstäglichen Sprint schon drei Zähler an Verstappens Vorsprung abgeknabbert hatte, bot sich im 21. WM-Lauf die beste Chance, einen großen Satz nach vorn zu machen. Der Brite, nicht immer der nervenstärkste, setzte vor dem bislang wichtigsten Rennen der Saison auf gesunden Egoismus: „Mir ist egal, ob Max Erster oder Letzter ist.“ Scheuklappen in einem auch außerhalb der Piste aufgeheizten Titel. Verstappen war Vorgeplänkel und Psychoduelle gewohnt, der Niederländer rückte nicht von seiner Aggressivität ab. Er kann und will nicht anders.
Norris verschenkt die Pole schon wieder
Einen Platz gewann er schon, bevor es auf feuchter Piste eigentlich los ging, da der Kanadier Lance Stroll in der Einführungsrunde seinen Aston Martin in die Bande setzte. Startabbruch! Konkurrent Norris setzte trotzdem noch einmal zu einer weiteren Formationsrunde an, obwohl die Hauptstartampel über der Startgeraden noch Orange zeigte. Das Lichtsignal rechts von seinem Cockpit war jedoch erloschen. Einige Fahrer folgten ihm, andere blieben stehen. Auch Verstappen, der gleich funkte: „Das Chaos hat ganz vorn begonnen.“ Ermittelt wurde erst im Anschluss an das Rennen. Es scheint keine Formel 1 mehr ohne Kontroverse zu geben.
Mit 20 Minuten Verspätung ging es dann doch los. Norris verlor die Spitze gegen seinen Landsmann George Russell im Mercedes, wieder eine Pole-Position verschenkt. Max Verstappen sprang innerhalb der ersten viereinhalb Kilometer auf den zehnten Rang. Sieben Plätze gut gemacht, die Wut war für ihn offenbar ein guter Antrieb. Kaum waren zwei freie Runden gefahren, und damit das Minimum für eine Rennwertung erfüllt, zogen wieder dicke Regenwolken auf. Verstappen sprang weiter nach vorn, mit vollem Risiko und seiner gewohnt eigenen und eigenwilligen Linie überraschte er im Nieselregen auch Oscar Piastri im zweiten McLaren, war nach zehn Runden Siebter. Das Titelrennen war auch eine Vertrauensfrage, dem Vertrauen in sich selbst.
Eine Frage des richtigen Gespürs, auch bei der Interpretation des Wetterradars. Wer wechselt wann von den Intermediates genannten Gemischtreifen auf die Regenreifen? Ein Poker, der für zusätzliche Anspannung und Spannung sorgte. Max Verstappen war der schnellste Mann im Feld, hatte aber eine ganze Gruppe vor sich bei der Aufholjagd. Beim Überholversuch wurde er von Charles Leclerc nach außen gedrängt. Er war klug genug, nachzugeben, beschwerte sich nur über das Manöver. Da lag noch vieles in der Gischt.
Die Regenfront war da, zu sehen war jetzt fast nichts mehr, schemenhaft war zu erkennen, dass Nico Hülkenberg seinen Haas-Ferrari rausgeworfen hatte. Virtuelle Neutralisierung in der 28. Runde. Streckenposten schoben den Emmericher zurück, das war gegen die Regeln. Hülkenberg wird später mit einer Schwarzen Flagge aus dem Rennen genommen. Die Spitzenfahrer hatten schon neue Pneus geholt, Verstappen blieb noch mit den Mischreifen draußen. Auf der neu asphaltierten Piste bildete sich Schaum, die Rennleitung schickte bei so viel Wasser Bernd Mayländer mit dem Safety Car im 30. Umlauf raus. Kurz zuvor hatte Norris den Mercedes von Russell überholt und war Vierter. Die Entscheidung kam aus dem Nichts – wie der Wolkenbruch.
Der Balanceakt für alle ging trotzdem weiter, die Piste war tückisch rutschig. Talent Franco Colapinto, der mangels eines brasilianischen Piloten als Lokalheld gefeiert wird, verlor in der Neutralisierungsphase seinen Williams – der zweite Totalschaden für das Team an einem Tag. Abbruch, alle Autos mussten in die Boxengasse. Für Verstappen, der Zweiter hinter Esteban Ocon im Alpine war, zahlte sich das aus – er bekam dadurch einen Reifenwechsel, ohne Zeit zu verlieren. Norris entfuhr ein entsetzter Aufschrei, diesmal spielte das Schicksal Red Bull Racing in die Hände.
Zwanzig Minuten Regenpause
Zwanzig Minuten saßen die Piloten den Regen aus, dann ging es in der 34. Runde für das zusammengerückte Feld hinter dem Safety Car mit einem rollenden Start aufs Neue los. Der Regen, so die Prognose, sollte bald ganz aufhören. Beruhigend wirkte das offenbar nicht, Lando Norris schoss gleich beim ersten Überholmanöver über die Kurve hinaus, fiel auf den fünften Platz zurück. Verstappen ging hinter Spitzenreiter Ocon nicht aufs Ganze. Wer zu nah auffuhr, operierte bei diesen Bedingungen im Blindflug. Der richtige Grip war alles. Carlos Sainz im Ferrari verlor ihn in der 40. Runde, der Sieger von Mexiko war draußen.
Verstappens Vorsprung von zehn Sekunden auf Norris war wieder dahin. „Es kann noch alles passieren“, funkte sein Renningenieur Gianpiero Lambiase, „Kopf runter und durch.“ So geschah es beim nächsten Versuch am langen Rennsonntag in Runde 43. Spitzenreiter Ocon zögerte einen Moment zu lange, und Verstappen schob sich am Ende der Gerade heran und im berüchtigten Senna-S vorbei, während Norris bei seinem Angriff wieder geradeaus rumpelte und auf den siebten Rang zurückfiel. Der neue Spitzenreiter zog davon, fuhr mit sich selbst um die Wette, während Oscar Piastri seinem McLaren-Teamkollegen den sechsten Platz schenkte. Der blieb wie sein Auto fehlerbehaftet – zum ungünstigsten Zeitpunkt der Saison. Ihm konnte – 20 Sekunden hinter der Spitze – höchstens noch ein Schauer kurz vor Schluss helfen.
Würde es nach der Nervenstärke gehen, stünde Max Verstappen als Champion bereits fest.