Reise: Südfrankreich - Schönheit vor den Toren von Marseille

2 Jul 2023
Marseille

Zwischen Großstadtflair und spektakulärer Natur: auf Törn im Nationalpark Calanques an der Küste der Provence. Von Marseille bis Îles des Embiez und wieder zurück

Der zierliche Junge steht einige Minuten auf dem gut 20 Meter hohen Fels von Le Torpilleur, der sich fast lotrecht aus dem Meer erhebt und dessen Silhouette an ein kleines Kriegsschiff erinnert. Mal macht der Jugendliche einen Schritt vor, dann wieder einen zurück. Wegen der scharfen Felskanten trägt er Turnschuhe. Anspannung und Nervosität übertragen sich auf alle, die sich dem Spektakel nicht entziehen können. Während unsere Crew mit den Worten ringt, wird der Junge von Mitstreitern und den Passagieren eines vorbeifahrenden Ausflugsdampfers angefeuert. Schließlich nimmt er all seinen Mut zusammen und springt schwungvoll vorwärts, um mit den Füßen zuerst in die Tiefe zu rauschen.

Für einen Moment ist es totenstill. Dann durchbricht der Klippenspringer mit einem lauten Knall und einer Fontäne die Wasseroberfläche. Als er wohlbehalten wieder auftaucht, sind der Jubel und die Erleichterung groß. Oben steht schon der nächste waghalsige Teenager mit schlotternden Knien bereit zu seiner Mutprobe.

„Wahnsinn, niemals würde ich da runterspringen“, sagt Mitsegler Matthias, „aber zum Glück kommen sie nicht auf die Idee, sich von dieser Stelle da hinten hinabzustürzen!“ Sein Blick wandert zu den noch weit höheren Felswänden, die die Calanque de Sugiton einrahmen, an deren Eingang Le Torpilleur aus dem Wasser ragt. Der Mont Puget, rund 565 Meter hoch, ist die höchste Erhebung des Nationalparks. Sie liegt zwischen Marseille und den fjordähnlichen Buchten, in denen es für Segler herrliche Ankerplätze gibt.

Marseille als Ausgangspunkt für einen Sommertörn

Nicht nur aufgrund seiner Lage bietet sich Marseille als Ausgangspunkt für einen Törn in die felsige Buchtenlandschaft des Nationalparks an. Zwar genießt die zweitgrößte Stadt Frankreichs einen zweifelhaften Ruf, doch von den Problemen im Nordteil der Stadt bekommen Segler und Touristen nichts mit. Rund um den riesigen historischen Vieux Port zeigt sich die europäische Kulturhauptstadt 2013 von ihrer schönsten Seite. Neben unzähligen Cafés, Bars und Restaurants in allen Preislagen finden sich auch viele kleine Märkte. Dort werden verschiedenste Handwerksprodukte angeboten, von kunstvoll gefertigten Messern bis hin zu traditionellem Tuareg-Schmuck. Und falls das Duschgel der Flughafen-Security zum Opfer gefallen sein sollte: Die berühmte Marseiller Seife gibt es hier an jeder Ecke.

Im Fischerhafen Vallon des Auffes, etwa 30 Gehminuten südwestlich des Vieux Port, haben sich einige der besten Restaurants der Stadt angesiedelt. Wir waren auf Empfehlung von Abdel, dem Charterbasisleiter, im „L’avant Cours“, wo der Chef die kleine, aber feine Karte persönlich erklärt. Um überbackene Miesmuscheln oder eine Bouillabaisse nach Art des Hauses genießen zu können, sollte unbedingt ein Tisch im Voraus gebucht werden.

Wer es ungezwungener mag, bummelt durchs Studentenviertel Quartier Cours Julien. Dessen Zentrum bildet ein autofreier Platz mit Springbrunnen, Zypressen, Kinderspielplatz und einigen Bistros. Reggae-Musik und bunte Street-Art garnieren das alternative Flair.

Kurs Süd

Anderntags dann, beim Auslaufen durch die belebte Hafeneinfahrt, passieren wir am nördlichen Ufer das Fort Saint-Jean und das „Mucem“. Das ist ein modernes Museum, das sich den Kulturen des Mittelmeeres widmet. Im Süden fällt der Blick auf das Monument zu Ehren der Helden und Opfer des Meeres. Kurs Süd wird die winzige Festungsinsel Île d’If an Steuerbord liegen gelassen, auf der die Romanfigur Edmond Dantès, besser bekannt als „Der Graf von Monte Christo“, eingekerkert war.

Nach dem obligatorischen Segelcheck holen wir die Tücher gleich wieder ein. Stattdessen treibt die Maschine unsere Dufour 360 GL über eine spiegelglatte See. Die schmale Passage von Des Croisettes, die zwischen der Île Maïre und dem Festland verläuft, bildet gewissermaßen das Tor zum Calanques-Nationalpark. Der Anker fällt das erste Mal in der Calanque de Sugiton in direkter Nachbarschaft zu den jungen Klippenspringern. Endlich den Motor ausstellen und ein erfrischendes Bad nehmen.

Ende Mai ist das Wasser noch angenehm abkühlend. Mit Taucherbrille und Schnorchel wird erst der Anker kontrolliert und dann der Fischschwarm von Bandbrassen direkt unter der „Fann d’Artist“, unserem Charterboot, bestaunt. An Deck bereiten wir zur Einstimmung einen Aperol Spritz und französische Käsespezialitäten vor, die sich in dieser eindrucksvollen Kulisse als besonders lecker erweisen.

Mit dem Dingi geht es danach an Land, um die Felsenlandschaft zu erkunden. Festes Schuhwerk, eine gute Balance und eine Grundfitness sind dabei sehr nützlich. Mitunter geht es steil auf und ab, und auf den teils losen Steinen kann man schnell mal das Gleichgewicht verlieren. Die Belohnung für einen schweißtreibenden Aufstieg ist der Panorama-Ausblick über die ankernden Boote in dem türkis funkelnden Wasser der Bucht. Hier hat sich ein einzigartiges Ökosystem gebildet. Weil so gut wie kein Erdreich vorhanden ist, verankern sich die Pflanzen in den Ritzen und Felsspalten des Kalkgesteins. Die zum Wachsen notwendige Feuchtigkeit beziehen sie zum größten Teil aus dem verdunsteten Meerwasser und der salzhaltigen Gischt der Brandung. Daher finden sich in den Calanques Pflanzen wie die Sabline de Provence, die nur hier gedeihen, sowie einige seltene Tierarten wie Perleidechse oder Habichtsadler.

Mehr Glück in Cassis

Am nächsten Tag laufen wir die Calanque de Port-Miou an. Es ist die einzige Bucht im

mit Festmacherbojen und einer Steganlage. So spontan bekommen wir allerdings keinen Platz, stattdessen erhalten wir den Rat, uns beim nächsten Mal per Funk oder Telefon anzumelden. Also geht es weiter nach Cassis, dessen Hafeneinfahrt von einem großen Leuchtturm markiert wird. Hier haben wir mehr Glück, die Marineros lotsen uns zum letzten freien Liegeplatz.

Rund um den kleinen Hafen mit seinen traditionellen Fischerbooten gibt es gastronomische Angebote mit vorzugsweise Fisch. Wer darauf keine Lust verspürt, ist in der Pizzeria gegenüber der Capitainerie gut aufgehoben. Berühmt ist Cassis insbesondere für seine trockenen, fruchtigen Weißweine. Das winzige Anbaugebiet von nur 210 Hektar profitiert vom Meeresklima und ist gleichzeitig gut geschützt vor dem Mistral. Mehrere Winzer bieten Weinproben an, die spontan buchbar sind. Direkt an den Hafen grenzen zudem ein schöner Strand und ein kleiner Park, wo die Einheimischen Boule spielen.

Schnorcheln im Nationalpark

Der östlichste Punkt des Nationalparks ist das kleine Eiland Île Verte, das beim Cap de L’Aigle nur wenige Hundert Meter entfernt von La Ciotat liegt. Es ist die einzige bewaldete Insel in der kargen Felslandschaft. In der Bucht Seynerolles im Südosten der Insel werfen wir mittags den Anker, um ein weiteres Mal zu baden und zu schnorcheln. Aufgrund ihrer strategischen Lage wurde die Île Verte immer wieder zur Festung ausgebaut, mal von den Franzosen, dann von den Engländern und schließlich von den Deutschen. Zu sehen ist von den kriegerischen Zeugnissen an Land heute kaum noch etwas. Dafür lockt die fischreiche Unterwasserwelt neben Schnorchlern auch Scuba-Taucher an.

Da für den nächsten Tag endlich Wind angesagt ist, steuern wir zum Abend noch die Îles des Embiez an, die zwar nicht mehr zum Nationalpark gehören, aber bei Ostwind der perfekte Absprungsort für einen längeren Schlag zurück zu den Calanques ist. Nicht nur aufgrund seglerischer Vorfreude sind die Inseln einen Besuch wert. Während die Muringleine vom Grund des Hafenbeckens von Port Embiez hochgezogen wird, um anschließend damit die Vorderklampe zu belegen, hallt eine französischsprachige Live- Version von Stings „Englishman in New York“ durch den Hafen. Leider eine Privatparty, aber die gute Stimmung ist trotzdem ansteckend. Beim morgendlichen Inselrundgang fällt die üppige Vegetation mit vielen Kakteen und farbenfrohen Blumen ins Auge, während über den vorgelagerten Felsinseln in Nordwest eine atlantisch anmutende Atmosphäre bei zunehmenden Winden herrscht. Zeit zum Losmachen und Segeln!

Zurück zur Calanque de Port-Miou

Mit dem imposanten Leuchtturm von Grand Rouveau im Heckwasser segelt die „Fann d’Artist“ in Rauschefahrt vor dem Wind die 15 Seemeilen zur Calanque de Port-Miou. Diesmal haben wir reserviert und einen Stegplatz in der lang gezogenen und bestens geschützten Fingerbucht bekommen. Die Steganlagen sind rustikal, und Landstrom sucht man vergebens. Dafür aber liegt das Schiff vollkommen ruhig inmitten von Eignerbooten. Ausnahmsweise empfiehlt es sich hier, mit dem Bug voraus anzulegen, da es schnell flach wird. Die Duschen sind überraschend modern, und neben einer Waschmaschine findet sich nicht nur eine kleine Bücherecke, sondern auch eine Eiswürfelmaschine.

Der letzte Happen Ratatouille ist gerade verzehrt, da taucht in der Dämmerung das in die Jahre gekommene Boot der Marineros auf. Vorn am Bug steht ein breit grinsender Mann und reckt sein Smartphone in die Höhe. Mit allem, was der Lautsprecher hergibt, ertönt „Money“ von Pink Floyd zu uns herüber. Kurz vorm Ansetzen der Luftgitarre dengelt das Boot leicht gegen das verlassene Nachbarboot, sodass der Witzbold fast über Bord geht. Die zwei Marineros kringeln sich vor Lachen genauso wie wir. „So humorvoll bin ich noch nie abkassiert worden“, freut sich Mitsegler Hajø.

Von der Antike bis in die Neuzeit wurde hier Kalkstein abgebaut und verschifft. Unter anderem sind die Kaianlagen von Alexandria aus dem alten Ägypten mit dem robusten Stein gebaut worden. Speziell im hinteren Teil dieser Calanque herrscht heute eine fast andächtige Ruhe, die auch auf das geringe Charteraufkommen zurückzuführen ist. Auf beiden Seiten der Einbuchtung gibt es Wanderwege, die schöne Einblicke auf diesen einmaligen Hafen gewähren. Per pedes kann auch Cassis wie das südlich gelegene Steinplateau erreicht werden, wo sich ein Sonnenbad bei bester Aussicht über die Bucht von Cassis anbietet. Der Weg dorthin ist Antoine de Saint-Exupéry, dem Autor des „Kleinen Prinzen“, gewidmet, der 1944 bei einem Flugzeugabsturz vor der Küste des Nationalparks ums Leben kam.

Halt auf dem Rückweg nach Marseille

Auf dem Rückweg Richtung Marseille besuchen wir am frühen Morgen noch die Calanque d’En-vau, die zwar als die schönste gilt, aber durch ein Ankerverbot auch besonders geschützt ist. Dafür wird in der nächsten Ausbuchtung, der Calanque de l’Oule, noch ein Stopp eingelegt. Da die spektakulären Felswände so steil ins Wasser fallen, wie sie in die Höhe ragen, darf so nah an den Fels navigiert werden, dass man ihn förmlich berühren kann. Von einem Motorboot lassen sich Taucher absetzen, um die Unterwasser-Canyons mit ihrer artenreichen Fauna zu erkunden.

Und dann kommt in der Bucht von Marseille noch einmal leichter Wind auf, sodass in Schmetterling-Stellung Kurs auf die Frioul-Inseln gesetzt wird. Während die Crew sich des lässigen Champagnersegelns erfreut, sausen foilende Sportkats mit internationalen Kennungen an uns vorbei – ein Vorgeschmack auf die Olympischen Spiele 2024 in Paris, deren Segelwettbewerbe vor Marseille ausgetragen werden.

Weil der große Hafen von Frioul keine Augenweide ist und als Umschlagplatz für die vielen Tagestouristen dient, die mit den Fähren vom Festland kommen, wird einvernehmlich beschlossen, die Calanque de Morgiret im Norden der Insel anzulaufen. Dort verbringen wir die letzte Nacht vor Anker. Die Entscheidung entpuppt sich als wahrer Glücksfall: Obwohl so nah der Großstadt gelegen, findet man sich in einem kleinen, gut abgeschirmten Naturparadies wieder.

Da weder Wind noch Strömung herrschen, ist ein entsprechender Schwojkreis zu berücksichtigen. „Legt so wenig Kette wie möglich, sonst müsst ihr die Nacht mit einem offenen Auge verbringen“, ruft uns ein Franzose von der Nachbaryacht zu. Also rasseln bei acht Meter Wassertiefe nur 20 Meter Ankerkette herab. Kurz darauf zieht eine Gewitterzelle mit Donner und Starkregen genau über uns hinweg, doch die Boote liegen ruhig, und der Anker hält, wie es uns versichert wurde. Zu später Stunde schiebt sich der Vollmond über Frioul und taucht die Bucht in gespenstisch schönes Licht.

„La vie est belle“

Bevor wir am nächsten Tag zum Katzensprung nach Marseille ansetzen, rudert ein Crewmitglied zum Strand, um im nahen Inselladen für das letzte Frühstück an Bord einzukaufen. Die Preise sind zwar gepfeffert wie die hauchdünnen Salamischeiben, die zusammen mit Roquefort und Provence-Tomaten auf den Tellern landen. Aber das ist es uns wert. Segeln und essen wie Gott in Frankreich, oder, wie die Franzosen sagen: „La vie est belle!“

Wissenswertes rund um den Nationalpark

Das Revier

Der Nationalpark ist ein Revier der kurzen Schläge. Ideal für Genießer-Törns in einer einzigartigen Landschaft, in der sich Segeln mit Baden und Schnorcheln, aber auch mit Klettern und Wandern vereinen lässt. Wanderschuhe einpacken!

Navigation & Seemannschaft

Einfache Küstennavigation mit wenig Untiefen, da die Küste fast überall steil ins Wasser fällt. Bei der schmalen und teils flachen Passage von Des Croisettes empfiehlt es sich, unter Maschine zu fahren, da viel Verkehr, starke Strömung und auffrischender Wind durch den Düseneffekt zu erwarten sind. Im Zweifelsfall außen um die Île Maïre herum. Ankern über Nacht am besten nur mit aktueller Wetterprognose und sorgsamer Platzwahl – Mistral und Fallwinde können tückisch sein. Häfen vorab über Kanal 9 anfunken oder anrufen, um zu reservieren.

Wind & Wetter

Im Hochsommer meist schwachwindig, nachmittags oft eine Seebrise aus Südost. Der gefürchtete Mistral aus Nordwest tritt häufiger im Frühjahr und Herbst auf. Bei ersten Anzeichen gleich reffen, da der Druck schnell weiter steigt.

Regeln im Nationalpark

Aufgrund der Waldbrandgefahr wird vom 1. Juni bis 30. September jeden Abend eine Prognose für den nächsten Tag veröffentlicht. Im Fall der „Alarmstufe Rot“ ist es streng verboten, an Land zu gehen. Über die App „My Calanques“ können die Vorhersagen in Echtzeit abgerufen werden. In einigen Calanques gibt es mit gelben Tonnen ausgewiesene Anker-, Angelbzw. Motorverbotszonen. Der Einsatz von Drohnen ist im Nationalpark verboten. Der Fäkalientank muss geschlossen bleiben. Die Einhaltung der Regeln wird von Rangern kontrolliert. Weitere Informationen zum Naturschutz in den Revierführern und auf Französisch unter:

Literatur & Seekarten

Der französische Hafen- und Revierführer „Bloc Marine Méditerranée“ mit Infos auch auf Englisch ist an Bord, ebenso Seekarten auf Papier. Ein guter englischsprachiger Revierführer ist der „Imray Mediterranean France & Corsica Pilot“ von Rod und Lucinda Heikell.

Charter

Wir waren mit einer Dufour 360 GL von Dream Yacht Charter unterwegs. Der Flottenbetreiber hat im Revier Basen im Vieux Port von Marseille sowie im Port Pin Rolland in Saint- Mandrier-sur-Mer bei Toulon. Das Schiff kostet je nach Saison von 994 Euro bis 4.320 Euro pro Woche (zzgl. Endreinigung, Bettwäsche, Handtücher, Dingi, Außenborder). Buchung über SamBoat: [email protected], TEL. 0611/97869110,

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